(Der Text ist runterladbar hier.)
Viele Abhängige finden den Weg zur Abstinenz. Dennoch bringt die Sucht immer wieder Menschen ins Heim oder ins Grab. Je kürzer die Zeit abhängigen Konsums, je weniger Rückfälle, je weniger geht im Leben zu Bruch und je unwahrscheinlicher wird es, daß die Sucht das ganze Leben zerschlägt. Deshalb lohnt es sich, die Tücken der Sucht zu kennen.
(1) Sucht ist ein bösartiges Gewächs im Kopf
Hirn wächst: Die Zellen vernetzen sich, und das Netz wird um so stärker, je öfter sich etwas wiederholt und je heftiger es mit Gefühlen einhergeht. Wird über lange Zeit regelmäßig ein Suchtmittel konsumiert, entsteht ein Nervenzellnetzwerk, in dem alles gespeichert ist, was mit dem Konsum zu tun hat: wieviel und wie oft konsumiert wurde; wie der Konsum wirkt und was man damit anfangen kann; wie man vor sich selbst das nötige Lügen und Verheimlichen rechtfertigt usw. – Sobald es durch einen Auslösereiz aktiviert wird, sorgt das Verhalten komplett für sich selbst, es findet den Weg zu seinem Ziel buchstäblich „wie im Schlaf“, sogar dann, wenn die Betroffenen es gar nicht mehr wollen. Es ist wie das Gängeschalten im Auto, das ebenso „instinktiv“ und nebenbei abläuft und keine bewußte Steuerung mehr braucht.
Je stärker das Suchtnetzwerk ist, desto öfter setzt es sich gegen alles durch, was im Leben wichtig ist. Langsam aber sicher wird das ganze Leben der Sucht untergeordnet, gnadenlos: die Interessen, der Beruf, die Familie, die Gesundheit, das Leben. – Stoppen kann diesen Prozeß nur die Abstinenz.
(2) Sucht stellt sich tot
Nervenzellnetzwerke werden nicht abgebaut, selbst wenn sie jahrelang nicht mehr aktiviert werden.Bekannt ist dieser Effekt vom Radfahren, auch das kann man nicht mehr verlernen. – Abhängige, die die Abstinenz beenden, müssen damit rechnen, daß ihnen früher oder später der Konsum wieder entgleist. Bei manchen stellt sich bereits nach kurzer Zeit das alte Konsumverhalten wieder her. Andere jubeln, wenn sie es schaffen, mehrmals zu konsumieren, ohne das frühere Verlangen zu spüren. Das ermutigt sie, wieder öfter zu konsumieren. Manchmal muß es dann erst zur Katastrophe kommen, bevor sie zur Abstinenz zurückkehren: Jemand hatte nach einem Jahr Abstinenz mehrmals bloß ein Bier getrunken, ohne weiteres Verlangen. Doch dann waren es plötzlich einmal vier, und er kam auf die Idee, mit dem Wagen noch schnell was zu erledigen. Auf dem Rückweg rammte er mehrere parkende Autos. Mit dem Führerschein mußte er auch seinen Garten abgeben, seine größte Quelle von Erholung und Freude, denn der Garten lag an einem idyllischen kleinen See, weit ab von Bussen und Bahnen, er konnte ihn nur mit dem Auto erreichen. Dabei hatte er noch Glück gehabt, keinen Radfahrer erwischt zu haben…
Manchmal stellt sich auch ein völlig anderes Konsummuster ein: Manche Abhängige, die überwiegend täglich konsumiert haben, entwickeln einen episodischen Konsum (bekannt als „Quartalstrinken“): Sie konsumieren dann zwar nur alle paar Wochen mehrere Tage, dafür aber exzessiv. Die Betroffenen halten das für einen Fortschritt – aber ihr Gehirn nicht, ihre Angehörigen auch nicht, oft auch nicht ihr Arbeitgeber und manchmal nicht mal die Polizei…
Generell gilt: Die Sucht hat den längeren Atem. Angenommen, jemand entscheidet sich mit 35 für die Abstinenz, lebt 15 Jahre rückfallfrei, beginnt mit 50 wieder mit dem Konsum und schafft es tatsächlich, zwei Jahre so zu konsumieren, daß nichts zu Bruch geht. Dann sagen alle: „Der kann wieder kontrolliert trinken!“ – Gut, aber wie lange? Er ist erst 52! – Die Sucht grinst. – Was ist, wenn er mit 54 wegen Alkohol am Steuer seinen Führerschein verliert, an dem der Arbeitsplatz hängt? Mit 54 arbeitslos – na Klasse! – Und wie sieht es dann mit der Motivation zur Abstinenz aus, wenn es eh egal ist, ob er trinkt oder nicht? – Abgesehen davon: was heißt es schon, wenn über zwei Jahre „nichts zu Bruch geht“? Auch ohne daß die Ehefrau oder der Arbeitgeber sich trennen, kann man sich auf Dauer um Kopf und Kragen konsumieren. Mit 60 einen Schlaganfall zu haben ist auch nicht so toll… – Sucht ist tückisch. Sucht hat Zeit. Sucht grinst…
Die Sucht ist ein Monster, das mit jeder Futtergabe wächst, und es kann selbst nach Jahren des Aushungerns seine alte Stärke wieder herstellen, sobald es wieder Futter kriegt – denn es hungert nicht, es schläft einfach ein, wenn es nicht mehr gefüttert wird, es kann nicht auszehren und nicht schrumpfen…
(3) Sucht drängt sich vor
Unser Gehirn belohnt gutes Verhalten mit guten Gefühlen: ein sinnvolles Werk verrichten, etwas Gutes essen, mit netten Menschen zusammen sein, Tanzen, Lieben, Erfolg haben, Musik hören usw. Unser Gehirn „macht“ die guten Gefühle: Gefühle sind neuronale Stoffwechselzustände, also Biochemie. Und das birgt die Möglichkeit, der Chemie etwas nachzuhelfen und die gewünschten „Stoffwechselzustände“ durch Zufuhr einer chemischen Substanz herzustellen, statt durch das Tun des Richtigen. Nutzen wir diese Eselsbrücke lange genug, ziehen wir sie irgendwann allen anderen Wegen zum Glück vor, der Suchtmittelkonsum nimmt dann selbst den attraktivsten Aktivitäten „den Wind aus den Segeln“: Jemand malt in seiner Freizeit und hat viele tolle Ideen, die er unbedingt realisieren will. Aber immer wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, sagte er sich: „Ach, erst Mal ein Wein!“ – Auf Dauer spürt er immer seltener die Energie, die er fürs Malen braucht. Er findet das zwar nicht toll, aber zunächst auch nicht besonders schlimm, denn er sagt sich: „Die Bilder laufen schon nicht weg!“ Nur fällt ihm irgendwann auf, daß er regelmäßig den Wein demjenigen vorzieht, was ihm wirklich am Herzen liegt. Er wundert sich, und denkt: „Das kann doch nicht sein!“ Er geht ein paar Mal bewußter mit dem Alkohol um. Aber nach ein paar Wochen muß er feststellen: Tatsächlich, egal, wie faszinierend das Malen für ihn ist: den Suff zieht er vor! Sucht ist ein autonomer Wille, der sich völlig ablösen kann von dem, was ein Mensch eigentlich will, wertvoll findet und anstrebt. Die Sucht behält ihre Macht selbst dann, wenn der Betroffene das, womit sie ihn belohnt, gar nicht mehr mag. Viele Abhängige sagen nach einem Rückfall: „Ich weiß doch, daß es nicht mehr so toll wird wie früher – verflixt nochmal, wie war das möglich, daß ich es trotzdem wieder gemacht und dabei soviel riskiert habe?“
(4) Sucht unterschlägt
Die Fähigkeit, uns auf eine Sache zu konzentrieren, besteht darin, alles zu blockieren, was die Konzentration stört. Wenn wir bei der Flucht vor dem Tiger an den Ärger mit dem Chef denken würden, hätte der Tiger es leicht. Es ist immer nur ein Nervenzellnetzwerk voll aktiv, und es wird aktiviert, indem es die andern Nervenzellnetzwerke runterfährt. Diesen Effekt der „reziproken
Hemmung“ kennt jeder: manchmal ist ein Film oder ein Fußballspiel so spannend, daß man gar nicht mehr merkt, wie stark eigentlich die Blase drückt.
Je attraktiver eine Vorstellung ist, desto heftiger hemmt sie alle anderen Vorstellungen, wir denken immer stärker nur noch an die eine. Und je stärker wir an sie denken, desto weniger fragen wir uns, ob wir wirklich so stark an sie denken wollen. Doch selbst wenn wir uns das fragen würden, hätten wir keine Lust, uns die Frage zu beantworten und es fiele uns schwer, uns überhaupt darauf zu konzentieren.
Das Tückische des Prinzipis der reziproken Hemmung besteht darin, daß sie auch das Bewußtsein hemmt, daß gerade etwas gehemmt worden ist, wir kriegen das nicht mit, im Bewußtseinsstrom erleben wir keinen Bruch. – Wird das Verlangen geweckt, blockiert es den Kontakt zur Lebenserfahrung, zur Einsicht, zu Vorsätzen und Vorhaben. Die Betroffenen denken nicht mehr an
die Gründe für die Abstinenz, und wenn, dann ist es so anstrengend, wie mit dem Rad steil bergauf zu fahren, während alle anderen Wege bergab gehen. Es blitzen automatisch Gedanken auf, die die Abstinenz in Zweifel ziehen: ob man die Abstinenz denn wirklich so konsequent durchhalten muß – ob man nicht mal eine kleine Ausnahme machen kann – daß es doch gehen müßte, wenn man sich ganz stark vornimmt, nur wenig zu konsumieren – gegen so ein bisschen kann doch keiner was haben… – Das Aufblitzen genügt, um die Erlaubnis zu erteilen, die Weiche in Richtung Konsum zu stellen und Einsicht und Vorsatz zu hemmen, es ist aber gleichzeitig so kurz, daß die Einsicht kaum
eine Chance hat, dazu Stellung zu nehmen, bevor sie gehemmt wird. So schafft es die Sucht, den Willen zu unterlaufen. – Die Betroffenen stehen hinterher verwundert da und berichten, die Argumente für das Durchhalten der Abstinenz seien weg gewesen, wie bei einem black-out.
Abstinenzfähigkeit erfordert, zu trainieren, die unwillkürlichen Zweifel an der Abstinenz bewußter wahrzunehmen und darauf mit einem „stopp, was mach ich hier gerade!“ zu reagieren.
Selbst Menschen, die seit Jahren abstinent leben, die die Tricks der Sucht kennen, die ihren Frieden mit dem Abschied vom Suchtmittel gefunden und eine attraktive Vision entwickelt haben für die Nutzung der durch die Abstinenz entbundenen Potentiale, selbst die können noch von der Sucht
ausgetrickst werden. Aufgrund ihrer Erfahrung und Willensbildung müßten sie eigentlich Eins und Eins zusammenzählen: „Wie komme ich darauf, daß ich jetzt schaffen könnte, was ich trotz so vieler Versuche nie mehr geschafft habe? – Und wozu überhaupt so ein Risiko eingehen?“
Doch wir Menschen können uns an solchen Fragen vorbeistehlen. Wie ist das möglich? Kann man sich einfach sagen: „Ich weiß zwar, daß es Irrsinn wäre, aber das interessiert mich jetzt nicht“? Nein, das kann man nicht, jedenfalls nicht so einfach. Sich an der eigenen Lebenserfahrung vorbei zu stehlen geht etwa so: „Wenn du so ein gutes Gefühl hast, es schaffen zu können, dann zermarter dir doch nicht das Hirn mit deinem scheiß Wissen! Folg doch einfach mal deinem Gefühl! Außerdem: Du hast dich doch weiter entwickelt, vielleicht kannst du es dadurch auch wieder besser kontrollieren!“
Das Gefühl, es schaffen zu können, verbindet sich mit einer Rationalisierung („könnte doch sein, daß du dich weiterentwickelt hast…“), sowie mit der Disqualifizierung von Vernunft als altkluge Bedenkenträgerei. – Das alles verschafft weit mehr als nur eine einfache Erlaubnis: Es fungiert als Erlaubnis, die Erlaubnis nicht in Frage zu stellen…
Auf „Vielleichts“ fallen nicht nur Süchtige rein, „Vielleichts“ haben in der Weltgeschichte viel verdorben, unsere Bestechlichkeit durch das „Vielleicht“, durch die spontanen Gewißheitserlebnisse bei der Entdeckung von Erklärungsmöglichkeiten, wird von der Sucht bloß ausgenutzt. – Alle Menschen sollten sich beizeiten angewöhnen, ihre „Vielleichts“ zu identifizieren und kein „vielleicht“ stehen zu lassen ohne ein: „und was, wenn nicht?“…
Doch was ist nun mit dem Gefühl, es unter besonderen Bedingungen noch mal schaffen zu können, so zu konsumieren, daß kein Schaden entsteht? Kann man dem denn gar nicht mehr trauen? – Nein, dem kann man nicht mehr trauen. In diesem Gefühl nutzt das Prinzip „Der Wunsch ist der Vater des Gedankens“ (Punkt 6) die irreführenden Alltagsintuitionen aus, die die Komplexität unseres Gehirns verkennen.
(5) Sucht trickst unsere Intuition aus
Als Kind konnte ich nicht glauben, daß die Erde ein Kugel sein sollte. Ich dachte: „Das geht doch nicht, dann würden die Menschen auf der andern Seite ja runterfallen!“ – Unsere Intuitionen bilden sich in unseren Lebensvollzügen: Das, was regelmäßig geschieht, bildet instinktive, mit starken
Gewißheitserlebnissen verbundene Erwartungen aus, womit wir rechnen können. Wenden wir unsere Intuitionen auf Unalltägliches an, fallen wir auf sie herein. Die Absolutheit der Abstinenz ist kontraintuitiv. In der Regel gilt im Leben: es wird nicht gleich eine Katastrophe passieren – es wird Gras drüber wachsen – wenn man nur aufpaßt und Vorkehrungen trifft, dann kann nichts
ausufern usw. – Abhängige kämpfen in Rückfallsituationen gegen ihre Intuitionen an, die ihnen immer wieder suggerieren, daß die Abstinenz vielleicht nicht absolut sein muß…
(5.1) Die „Immer-so-weiter“ und “Immer-wieder“- Intuitionen
(5.1.1) „Was immer wieder geht, wird immer wieder gehen“.
Es ist sinnvoll, davon auszugehen, daß das Regelmäßige in der Regel verläßlich ist. Andernfalls müßten wir jeden Morgen darum bangen, daß die Sonne wieder aufgeht. – Allerdings: Steter Tropfen höhlt den Stein. Das ist immer wieder ganzen Völker zum Verhängnis geworden, die neue Fakten schufen, ohne es zu ahnen. Irgendwann ging irgendwas, was immer ging, nicht mehr: Es wird immer mehr Bergwald gerodet, die Erde wird vom Regen fortgeschwemmt, neuer Wald wächst nicht, ohne Wald ändert sich das lokale Klima, der Regen bleibt aus, die Ernten auch… – Sucht verändert die Grundlage der Regel durch Trainingseffekte und Folgeschäden. Bei Sucht gilt nicht „immer wieder“, sondern „immer mehr“, bis irgendwann irgendwas nicht mehr geht…
Die „Immer-Wieder“-Intuition basiert auf einer intuitiven „Statistik“: „Meist habe ich doch bisher so getrunken, daß nicht wirklich was Schlimmes passiert ist. Gut, ich bin ein paar Mal im Krankenhaus aufgewacht, aber so schlimm war das auch wieder nicht.“ – Daraus entsteht spontan eine Rückfallkalkulation: „Also was solls, das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß ich nochmal
im Krankenhaus aufwache!“ – Doch jeder Rückfall öffnet die Büchse der Pandora, bei jedem Rückfall steht die ganze Palette von Schäden und Unglücken bereit, die mit Suchtmittelkonsum verbunden sein können: vom Führerscheinverlust oder der Meldung beim Jugendamt bis hin zu allen möglichen Unfällen oder allen denkbaren gesundheitlichen Folgen.
Schon mehrmals erlitten Patienten von mir bei Rückfällen komplizierte Knochenbrüche, die dazu führten, daß sie chronische Schmerzen zurückbehielten bei der Benutzung von Hand oder Fuß. Damit können dann wichtige Voraussetzungen für die Lebensqualität und eine langfristige Aufrechterhaltung der Abstinenz geschmälert werden: Spaziergang oder Tennisspielen sind nicht mehr lange schmerzfrei möglich. – Am Tragischsten ist es, wenn gesundheitliche Folgeschäden falsch kalkuliert werden: Eine mittvierzigjährige Frau starb bei einem Rückfall an einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung.
Sicher, solche Katastrophen sind selten und es passiert auch nicht bei jedem Rückfall etwas Schlimmes. Aber das ist gerade das Tückische, das die Betroffenen in Sicherheit wiegt. Aus einem glimpflich verlaufenden Rückfall kann leicht der falsche Schluß gezogen werden, die Selbstbestimmung bezüglich des Konsums sei wieder gut genug: „Na ging doch!“. Werden dann weitere gute Erfahrungen mit weiteren „Rückfällen“ gemacht, entsteht erneut eine längere Konsumphase – und die Sucht wächst und wächst, und je mehr sie wächst, je schwerer, gefährlicher und komplikationsreicher wird der Rückweg zur Abstinenz: Manche wachten nach einer Phase „kontrollierten Trinkens“ auf der Intensivstation auf. Ihnen wurde klar, daß jeder weitere Rückfall sie ins Heim oder ins Grab bringen könnte. Sie nahmen sich fest vor, ihre Abhängigkeit noch ernster zu nehmen und noch besser auf sich aufzupassen – doch drei Wochen nach der Entlassung erwachten sie erneut auf der Intensivstation… – Je mehr die Sucht wächst, desto länger wird der Bremsweg…
Noch unkalkulierbarer als das schleichende Wachstum der Sucht ist das nicht schleichende: Mit jedem Rückfall kann ein neues Niveau von Abhängigkeit erreicht werden, ein „Kippen“ in ein neues, destruktiveres Trinkmuster: Jemand, der immer nur episodisch konsumiert hatte, nie länger als eine Woche, geriet in einen unvorhersehbaren, schweren und mehrere Wochen langen Rückfallverlauf, der ihn Partnerschaft und Job kostete.
Wir haben Gegenintuitionen gegen das „immer wieder“: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“ „Irgendwann ist immer das erste Mal“. Doch diese Gegenintuitionen sind offenbar weniger archaisch, wir müssen üben, an sie zu denken.
(5.1.2) „Heile, heile Mäusespeck, in hunnert Jahr is alles weg“
Viele Veränderungen bilden sich zurück, so, wie ein Pendel irgendwann wieder zur Ruhe kommt, wenn die Krafteinwirkung, die es in Bewegung gehalten hat, wegfällt. – Wenn man nur lange genug abstinent lebt, warum sollte sich dann die ursprüngliche Kontrollfähigkeit nicht wieder herstellen? Wenn man sich das Bein bricht, kann man doch auch irgendwann wieder gehen! Und überhaupt: Irgendwann ist doch über jede Sache Gras gewachsen! Und zudem: Man will ja auch gar nicht mehr so saufen wie früher, man kann sich das gar nicht mehr vorstellen, ja, man findet es eklig und Zeitverschwendung, geschweige denn irgendein Risiko wert. Sollte man da nicht doch wieder fähig
sein, es zu kontrollieren?
Nein! Es klingt komisch, aber Sucht ist – wie jedes automatisierte Verhalten – ein Können, ein Trainingseffekt. Und das Ausmaß unseres Könnens ist für unsere Intuition erst dann faßbar, wenn wir oft genug davon überrascht worden sind. Alles wichtige Verhalten muß auch funktionieren, wenn wir nicht darauf achten. Dafür haben wir das „prozedurale“ Gedächtnis, dessen Inhalte uns nicht bewußt sind. Deshalb wissen wir bestenfalls aus Erfahrung um unser Können, aber wir fühlen es nicht. – Weil das ganze Ausmaß des „Trainingseffektes“ der Sucht nicht fühlbar ist, erleben Abhängige, die längere Zeit abstinent waren, es als völlig gewiß, daß es doch wieder gehen müßte mit dem kontrollierten Konsum. In der Regel staunen sie dann früher oder später darüber, wie toll ihr Gehirn all ihre Vorsicht und Vorsätze ausgetrickst hat…
Abstinenzbeendigung ist wie Amnestie für einen Meisterdieb, der es in jede Bank schafft, egal wie gut sie bewacht und gesichert ist.
(5.2) Die Selbstbestimmungs-Intuitionen
(5.2.1) Ich bin doch nicht blöd, und tue was, was ich nicht will!“
Man kriegt doch mit, wenn man sich nicht an die Regeln hält, an die man sich aus guten Gründen halten will! Niemand schadet sich doch willentlich selber! Was spricht für Abhängige also dagegen, mit einer klaren Regel („Nur am Wochenende!“) den Konsum wieder zu wagen? – Das Problem ist: Man weiß nie, wie überzeugend die Regel noch ist, wenn der Fall eintritt, in dem die Regel zur Anwendung vorgesehen war („Heute ist Mittwoch, da darf ich nicht.“) Irgendwann fragt man sich: „Muß die Regel eigentlich wirklich so streng sein? Warum sollte ich mir nicht auch Mittwochs mal ein Bier gestatten?“ – Wenn es mit dieser Regel läuft (es wird mehr schlecht als recht laufen, aber das zählt nicht, für Abhängige zählt nur, daß es „irgendwie“ läuft, das ist ihnen schon Beweis genug, daß sie noch Herr im Hause sind), wenn es bloß irgendwie läuft, wird man sich die Frage stellen: „Warum sollte ich eigentlich ausgerechnet bloß am Mittwoch eine Ausnahme machen“…
Die Illusion von der Konstanz des Willens führt auch zu illusionären Kontrollüberzeugungen bezüglich der Konsummenge, was folgender „innerer Dialog“ veranschaulicht: „Du wolltest eigentlich jetzt aufhören!“ – „Nein, ich habe mein Ziel noch nicht erreicht!“ – „Aber es war abgemacht, jetzt aufzuhören, nur unter dieser Bedingung habe ich es dir erlaubt!“ – „Ist ja richtig,
aber ein wenig geht noch! Deine Bedingung war doch völlig willkürlich! Warum denn ausgerechnet nur 3 Bier? Wo ist denn jetzt das Problem, noch ein viertes zu trinken!?“ …
(5.2.2 ) Die Intuition vom „roten Bereich“
Uns fehlt die Intuition für das Wachsen der Sucht. Jeder Konsum trainiert die Hemmung dessen, was einen Rückfall stoppen könnte: das Bewußtsein für die Gründe der Abstinenz und für die Erfahrung mit den eigenen Strategien, sich mit Konsumerlaubnissen und Ausnahmeregelungen auszutricksen. Jeder Konsum trainiert außerdem die Fähigkeit zu impulsiv-reflexhaften Entscheidungsstrategien, bei denen die Erlaubniserteilung vorbewußt bleibt.
Das „Wachstum“ der Sucht vollzieht sich so langsam, daß es nicht wahrnehmbar ist. Und selbst wenn wir es wahrnehmen könnten, würden wir auf den Gedanken kommen: „na, dann wächst es halt noch ein bischen, es ist doch noch im grünen Bereich!“ Die Sucht rechnet vor, daß die Gesundheitsschäden, die Familienzerrüttung, die nicht mehr ins Selbstbild passende Unzuverlässigkeit und die vor sich selbst nicht mehr vertretbare Vernachlässigung der eigenen Interessen noch ganz weit entfernt sind, und sie zieht daraus den Maßstab der Unangemessenheit von Abstinenz. – Es ist, als ob man eine Strecke hinunterrollte, deren Gefälle stetig zunimmt, aber man rechnet bei der Bestimmung des Bremszeitpunkts nur mit ihrer Länge, nicht mit der zunehmenden Geschwindigkeit. – Oder als ob ein Boot auf einen Wasserfall zusteuert und der Skipper denkt: „Ach der Wasserfall ist noch so weit weg, wenn ich noch ein wenig weiter fahre, kann gar nichts passieren.“ Aber er denkt nicht daran, daß die Strömung immer stärker wird, je weiter er fährt…
(5.2.3) „Wenn ich weiß, was ich will, weiß ich, was ich will.“
„Hintertürchen“ kann man bemerken, es sind meist flüchtige Gedanken wie: „Wenn ich mich wirklich wieder ganz Scheiße fühle, dann könnte ich ja vielleicht doch wieder….“ – Wenn man sie gemerkt, disqualifiziert man sie und denkt, man hätte die Hintertürchen damit ein für allemal verschlossen. Doch wir haben keinerlei „Anzeige“, die piept, wenn das Hintertürchen noch nicht ganz zu ist. Wir bemerken nur, daß die Gedanken, die unsere Vorsätze in Zweifel ziehen, wieder verschwinden, wenn wir sie disqualifizieren; aber wie viel Gewicht diese Gedanken in bestimmten Situationen noch bekommen können, können wir nicht wissen, für die „Macht“, die in diesen Gedanken , haben wir kein verläßliches Gefühl. – Viele glauben, der Regel zu folgen: „Ich trinke nie wieder“ und müssen sich nach einem Rückfall eingestehen, der Regel gefolgt zu sein: „Ich trinke nie wieder, es sei denn, ich fühl mich noch mal so beschissen!“
Jeder Anflug eines Gedankens, es könne vielleicht doch mal Bedingungen oder Gründe geben,die eine Ausnahme von der Abstinenz gestatten, ist eine Gelegenheit, die Abstinenz zu trainieren: Lassen Sie den Gedanken nicht entwischen! Stellen Sie ihn zur Rede, er soll ausführlich begründen, wieso er nach allem, was Sie mit Abstinenzbeendigungen erlebt haben, noch glaubt, es könne Bedingungen geben, unter denen der Konsum nicht entgleist. Und dann konfrontieren Sie jeden seiner Gründe mit ihren Rückfallerfahrungen. Und der Gedanke soll zu jeder Erfahrung des Mißlingens Stellung nehmen und Ihnen erklären, wie er garantieren will, daß es beim nächsten Mal nicht wieder schief geht. Da wird er schon ziemlich kleinlaut. Doch dann soll er außerdem noch erklären, was am Konsum so toll oder vorteilhaft sein soll, daß er glaubt, Ihnen im Ernst klarmachen zu können, das sei ein Risiko wert und besser, als einen anderen Weg zu suchen. – Hintertürchen schließen ist gut, sie zumauern ist besser.
Früher oder später wird die Abstinenz selbst alle Hintertürchen vermauert haben. Aber je bewußter man die Gelegenheiten, Saboteure zur Rede zu stellen, am Schopfe packt, desto sicherer die Abstinenz. – Doch ist das nicht gefährlich, Rückfallgedanken auszubuchstabieren? Kann man sich damit nicht selber „heiß“ reden? – Das ist denkbar. Doch man muß das ja auch nicht alleine machen. Wozu gibt es Selbsthilfegruppen und Suchtherapeuten? – Grundsätzlich gilt: Eine Bombe im Zimmer wird nicht dadurch entschärft, daß man sie unter den Schrank schiebt.
(6) Sucht steuert Gedanken
„Der Wunsch ist der Vater des Gedankens“: Flutet das Verlangen an, fallen Abhängigen jede Menge Gründe ein, wieso es nicht notwendig sei, die Abstinenz auch in dieser Situation durchzuhalten. – Selbst wenn man weiß, daß man einen Fehler macht, wird noch angezweifelt, daß es sinnvoll ist, sich diesen Fehler in dieser Situation zu versagen…
Vor der Befriedigung des Verlangens befinden sich Süchtige in einer andern Welt als danach.
Die folgenden Gedanken wirkten aus dem Vorbewußten heraus. Erst im Nachhinein konnten die Betroffenen sich bewußt machen, wie sie sich ausgetrickst hatten. – (Damit Sie selber etwas über die „Fehler“ in diesen Gedanken herausfinden können, finden Sie meine Kommentare dazu durch Anklicken der Links.)
„Brauchst gar nicht anfangen mit Kämpfen, der Teufel gewinnt sowieso!“ (1)
„Es geht schon irgendwie weiter!“ (2)
„Du warst doch entspannter mit Alkohol! Wenn Du ein Glas trinken würdest, könntest du entspannen und abschalten und alles wäre ok.!“ (3)
„Verbote sind dazu da, daß man sich nicht dran hält. Ich laß mir doch nichts verbieten!“ (4)
„Sollst du jetzt bis an dein Lebensende Tee trinken?!“ (5)
„Die Zeit vergeht tagtäglich und ich komm nicht weiter, ich kann keinen Fortschritt sehen. Vielleicht verbessert der Alkohol Deinen Gemütszustand. Vielleicht merkt meine Partnerin es nicht oder versteht es.“ (6)
„Wenn ich wieder trinke, verliere ich Lebenszeit!“
„Ach was, die Zeit geht so oder so vorbei, du versäumst nichts!“
„Aber das Problem wird davon nicht weggehen!“
„Ja aber es ist auch nicht schlimm, jetzt zu trinken.“ (7)
Teufel: „Ach komm, bloß ein Bier, das ist ja nicht so schlimm.“
Betroffener: „Ich weiß doch genau, daß es nicht bei einem Bier bleibt!“
T: „Ach was, du kannst es wirklich mal schaffen mit einem!“
B: „Nein, ich weiß doch, wie es weitergeht!“
T. „Aber das wär doch auch o.k.!“
B: „Aber dann verlier ich Kunden!“
T: „Es gibt auch andere Kunden!“ (8)
B: „Die Kunden werden mich als Säufer erleben und mir keinen Auftrag geben!“
T: „Soweit muß es nicht kommen! Du hast dich das letzte Mal nur doof angestellt! (9)
B: „Aber ich habe auch keinen Bock auf den Katzenjammer am nächsten Tag.“
T: „Ach, das kannste schon ab. Is zwar etwas unangenehm aber ist doch eigentlich nichts Schlimmes. – Und überhaupt: Bisher hast du doch immer alles auch mit Bier hingekriegt!“
B: „Aber nicht so gut, wie ich immer wollte! Ich will mehr Erfolg haben!“
T: „Ach, es geht auch mit ein bischen weniger Erfolg!“ (10)
B: „Dann muß ich besoffen wieder Kunden ansprechen und mich erniedrigen!“
T: „Haste doch sonst auch gemacht, war doch ok!“ (11)
(7) Fazit und Ausblick
Abhängige haben sich eine Instanz im Hirn angezüchtet, die den Konsum einfach toll findet und das nie vergißt. Egal wie katastrophal die Sucht ihr Leben kaputt gemacht hat, sie werden sich irgendwann wieder dabei ertappen, zu überlegen, ob es nicht eine gute Idee sei, noch mal zu konsumieren. Wer nicht die Fähigkeit entwickelt, sich diesem Sog zu entziehen, geht daran zugrunde.
Rückfälle stehen immer in Zusammenhang mit irreführenden intuitiven Kontrollüberzeugungen und Rückfallkalkulationen, die sich „automatisch“ vorbewußt zusammenbrauen. – Die Winkelzüge der Sucht zu kennen, schafft so wenig Abstinenzfähigkeit, wie die Kenntnis der Schrittfolge im Tango schon einen guten Tänzer, sonst könnten die Suchttherapeuten sich darauf beschränken, zehnseitige Heftchen an die Betroffenen zu verteilen. – Dem Trainingseffekt der Sucht ist nur mit einem anderen Trainingseffekt beizukommen: Abstinenzfähigkeit entwickelt sich, indem der „innere Dialog“ zwischen der Instanz, die konsumieren will und der Instanz, die es nicht mehr will, oft genug durchgespielt worden ist. Irgendwann ist es dann instinktiv indiskutabel, die Abstinenz zu beenden. Erfahrene Betroffene, die lange genug abstinent waren, kennen diese „instinktive Indiskutabilität“ recht gut, sagen es bloß schlichter: irgendwann habe es bei ihnen „Klick“ gemacht… – In allen Fällen ist es sinnvoll und in manchen notwendig, die störungsspezifische Suchttherapie durch allgemeine psychotherapeutische Elemente zu ergänzen, die auf die Entstehung der Sucht eingehen, aus der die Funktion resultiert, die der Suchtmittelkonsum im Leben der Betroffenen übernommen hat. – Therapie und Selbsthilfegruppenbesuche können den Weg zum „Klick“ abkürzen. Je kürzer er ist, desto weniger geht zu Bruch…
Nachweise:
• Die Ausführungen zu den Intuitionen knüpfen an an die Begriffe „immer wieder“ und „immer so weiter“ aus: Alfred Schütz/ Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt a.M. 1979, S. 29
• Die neuropsychologischen Begriffe „reziproke Hemmung“ und prodzedurales“ Gedächtnis“ basieren auf Klaus Grawes Darstellungen in: „Neuropsychotherapie“, Göttingen 2004.
• Die „kontraintuitive“ Natur des Könnens und Regelfolgens explizierte L. Wittgenstein in seinen „Philosophische Untersuchungen“ §§ 147; 150f; 182ff