Denkanstöße zum Ausbildungsklima

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Die Ausbildungsleiter tragen eine hohe Verantwortung für die Patientensicherheit. Die Ausbildungskanditaten sind daher aufgerufen, Verständnis für die Entscheidungen der Verantwortlichen bezüglich der Einschränkung von Behandlungserlaubnissen zu haben. – Doch es ist auch die Frage, welche Vorsicht und welcher Aufwand den Verantwortlichen bei ihren Einschätzungen geboten ist.

Psychoanalytische Hypothesenbildung ist in der Behandlung relativ unproblematisch, weil die Fülle und Unmittelbarkeit der Rückmeldungen ständig gestatten, die Hypothesen zu modifizieren oder fallen zu lassen. Bei der Einschätzung von Ausbildungskandidaten ist das nicht der Fall. – Im Behandlungskontext arbeiten die Hypothesen, im Ausbildungskontext richten sie. – Ironischerweise war es ausgerechnet ein Psychoanalytiker, der belegte, daß Computer die besseren Personalentscheidungen treffen, weil sie unbeeindruckt Fakten auswerten (Kahnemann 2012, 275ff: „Intuitionen und Formeln“).

Auch die Beobachtung der Kandidaten in den Seminaren verbessert den Mangel an validierenden Rückmeldungen nicht. (Mal abgesehen davon, daß es seltsam anmutet, wenn ausgerechnet Ausbildungsinstitute für Psychotherapie Orte sind, an denen Menschen sich nicht unbefangen verhalten und nicht frei sprechen können, weil sie damit rechnen müssen, daß Taten und Worte hinter ihrem Rücken ausgewertet und irgendwann mal gegen sie verwendet werden.) Aufgrund der Interferrenz von Psycho- und Soziodynamik müßte man schon eine statistisch relevante Zahl von Interaktionen ein und derselben Person in verschiedensten sozialen Kontexten und Beziehungen beobachtet haben, um genügend „Invarianzen“ zur Stützung psychodynamischer Hypothesen zu gewinnen. Andernfalls muß mit klassischen Attributionsfehlern gerechnet werden, die situationsabhängige Faktoren falsch verallgemeinernd der Persönlichkeit zurechnen.

Je virtuoser die Hypothesenbildung beherrscht wird, desto spontaner setzen sich Eindrücke in Hypothesen um, die als derart stimmig erlebt werden, daß es schwer fällt, sie nicht für wahr zu halten. Aber Stimmigkeitserlebnisse sind kein Wahrheitskriterium. Hypothesen sind Denkmöglichkeiten: „Man könnte es so sehen“. Wenn man es so sehen könnte: wie könnte man es dann mit gleicher Berechtigung auch noch anders sehen? Und was will man von einem „man könnte es so sehen“ abhängig machen, wenn man es auch anders sehen könnte? – Geboten wäre: Mindestens die gleiche Mühe, die aufgewendet wird, um zu überlegen, was für eine Einschätzung spricht, auch aufzuwenden, um zu sehen, was dagegen spricht. – „Es ist anstrengender, Zweifel aufrecht zu erhalten, als in Gewissheit zu verfallen“ (Kahnemann 2012, 145).

Es sollte ein angstfreier Raum zur korrektiven Kommunikation geschaffen werden, in dem Kandidaten für Selbsteinschätzungen eintreten dürfen, ohne befürchten zu müssen, als respektlos, kritikunfähig, selbstüberschätzend, uneinsichtig oder zu wenig entwicklungsbereit zu gelten (das wären dann die nächsten Hypothesen…) – Möglicherweise könnte ja bei Vorbehalten gegen die Kandidateneignung zusätzlich zur „normalen“ Supervision, die ein geschützter Raum bleiben sollte, eine Art „Kontrollsupervision“ eingeführt werden, in der Kandidaten über einen Zeitraum von drei Monaten ihre Fallarbeit regelmäßig vorstellen.

Doch was soll es schaden können, wenn man angehende Therapeuten zur Sicherheit einschränkt, auch wenn man nicht genau weiß, welchen Aussagewert die für die Einschränkung ausschlaggebenden Mutmaßungen haben? – (Unabhängig von meinen Antworten sollte die Frage im Sinn behalten werden.) – Spätestens wenn die Patientenwarteliste länger wird, sollte über einige Behandlungseinschränkungen diskutiert werden. – Auch „Binneneinschränkungen“ sollten hinterfragt werden. Ist es z.B. sinnvoll, einem erfahrenen Paarberater Mehrpersonengespräche zu verbieten, weil Denkmöglichkeiten konstruiert werden können, die das Behandlungsgeschehen so darstellen, daß er die besondere Dynamik des Drei-Personen-Gesprächs möglicherweise nicht konsistent in das tiefenpsychologische Fallkonzept eingebaut und damit vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte? Durch eine solche Spekulation werden therapeutische Möglichkeiten unterbunden. Den Schaden haben die Patienten. – Wollen wir wirklich von einer nicht diskursiv reflektierten tendenziösen Hypothetik abhängig machen, wie lange Patienten auf eine Behandlung warten müssen oder was das Behandlungsangebot alles umfaßt?

Nachsatz

Kann ein schlechtes Ausbildungsklima wirklich schaden? Gehört es nicht unabdingbar zur persönlichen Eignung, zur „Reife“ eines angehenden Therapeuten, daß er fähig ist, schwere Wetter, die am Institut über ihn hereinbrechen, „ab zu können“? – Wäre eine „robuste“ Einstellung der Verantwortlichen nicht durchaus angemessen, etwa so: „Wir Verantwortlichen haben nicht die Zeit, genau zu erforschen, wie es sich mit gemutmaßten Eignungsmängeln eines Kandidaten wirklich verhält. Wenn keine anderen Hypothesen da sind, muß zur Patientensicherheit eben den ad-hoc-Hypothesen gefolgt werden. Die Kanditaten müssen das schlucken.“ – Eine solche Einstellung könnte für die Kandidaten immerhin noch die positive Botschaft enthalten: „Wir holen hier niemanden mit ins Boot, von dem wir davon ausgehen müssen, daß er ein Weichei ist und mit rauhem Klima nicht klar kommt.“ – Aber geht es wirklich nicht anders – zumal an Schulen für Psychotherapie?

Literatur: Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, Langsames Denken, München 2012

Nachtrag: Ich erhielt zu diesem Beitrag leider keine Stellungnahme von der Psychotherapeutenkammer Berlin.