Der Weg in die Sucht – eine Kurzgeschichte

(Dieser Text ist runterladbar hier)

Der geniale Hobbychemiker A. arbeitet nebenberuflich in seinem Garagenlabor an der Erfindung eines neuen Kunststoffs. Zufällig erfindet er dabei eine neue Substanz. Er nimmt sie ein und erlebt eine höchst angenehme Wirkung. Er nennt das Präparat „Limbi“. Er nimmt es ab jetzt öfter ein, zur Erholung. Warum auch nicht?

Bald merkt er, wie er sich auf dem Weg vom Büro nach Hause immer öfter auf Limbi freut. Er nimmt Limbi jetzt so oft, wie es möglich ist, ohne daß seine Partnerin wegen zu wenig gemeinsam verbrachter Zeit meckert, und ohne daß sein anspruchsvolles Hobby im Garagenlabor darunter leidet. – Doch sein Geldbeutel leidet darunter, denn die Zutaten für Limbi sind nicht billig. Aber er sagt sich: „Das ist es mir wert!“

Mit der Zeit merkt er, daß er sich nicht erst auf dem Nachhauseweg auf Limbi freut, sondern immer öfter auch schon im Büro. – Dann beginnt es, daß die Partnerin öfter meckert: er verbringe zuwenig Zeit mit ihr und er werde allmählich ganz schön knauserig. A. nimmt Limbi daraufhin seltener. Nach einiger Zeit vermisst er auch nichts mehr und es kommt alles wieder in Ordnung. – Doch allmählich steigt der Limbikonsum wieder und die alten Probleme stellen sich wieder ein. A. wird sauer auf seine Freundin: warum kann sie ihm nicht mehr von seinem eigenen Leben lassen und von seinem eigenen Geld? Er arbeitet schließlich hart, da darf er sich auch mal was gönnen und auch mehr Zeit für sich haben! – Die Partnerschaft pendelt sich auf einem schmaleren Niveau ein, die Partnerin macht jetzt auch mehr für sich.

A. nimmt Limbi jetzt fast täglich. Ihm fällt auf, daß er im Büro immer öfter unaufmerksam ist, weil die Vorfreude auf Limbi immer öfter die Gedanken auf sich zieht. Auf Konferenzen oder in Geschäftsgesprächen beeinträchtigt ihn das. Doch er denkt, daß diese Beeinträchtigungen nicht der Rede wert sind, er hat nach wie vor mehr als genug Erfolg im Job. Ihm fällt allerdings auf, daß er zu Hause mit seinem Hobbyprojekt kaum noch voran kommt, er hat kaum noch Zeit dafür, weil die Limbi-Auszeiten immer häufiger und immer länger werden. Und die Partnerin meckert auch schon wieder und wirft ihm vor, sich noch mehr zurückgezogen zu haben.

Einige Monate später gesteht die Partnerin ihm, sie habe sich in einen anderen Mann verliebt, mit dem laufe mehr. Sie trennt sich. – Der Limbikonsum steigt. Das Garagenlabor betritt A. jetzt kaum noch, er liegt, wenn er vom Büro kommt, fast nur noch in seinem Sessel und genießt Limbi. Oft nimmt er sich abends vor, am nächsten Tag wieder an seinem Laborprojekt zu arbeiten. Aber wenn er dann von der Arbeit nach Hause kommt, denkt er: „Ach ne, heute bin ich zu kaputt, um noch mal ins Labor zu gehen. Ich muß nicht ausgerechnet heute weitermachen!“ – Mit Freunden trifft A. sich kaum noch, für Zeitung oder Internet hat er keine Zeit.

Dann beginnt es, daß er immer schlechter schlafen kann. Der hohe und häufige Limbikonsum hat offenbar Schlafstörungen als Nebenwirkung. Schon vorher hatte A. im Büro gemerkt, daß seine Leistungsfähigkeit nachließ, Kollegen und Vorgesetzte hatten bereits häufiger was zu meckern. Durch die Schlaflosigkeit wird das schlimmer. Man hält das für Burnout-Anzeichen und schickt ihn in Urlaub.

A. fährt nach Mallorca und nimmt kein Limbi mit. Er vermisst es nicht. Er ist glücklich: Er hat es doch voll im Griff! Wäre er angewiesen auf Limbi, hätte er es in Mallorca doch vermissen müssen! Allerdings hat er für seine Verhältnisse ungewöhnlich viel Alkohol getrunken. Aber im Urlaub auf Mallorca trinkt man nun mal mehr Alkohol, das machen alle. – Er ärgert sich über seine Ex-Partnerin, daß die ihm nicht sein eigenes Leben lassen konnte. Er denkt sich: „Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, daß die weg ist!“ Ihm fällt jetzt alles ein, was ihn schon immer an ihr gestört hat: Ein Tick zu egozentrisch war sie. Und so´ne tolle Figur hatte die auch wieder nicht, die Beine hätten ruhig noch ein wenig länger und die Taille noch ein wenig ausgeprägter sein können! Im Bett hatte er in der Studentenzeit schon mal spannendere Frauen. Zudem hat sie kein Abitur und kein Studium, sie ist ja bloß Kosmetikerin. Zu ihm passt besser eine Akademikerin. Das haben seine Eltern ja gleich gesagt. Also: Es ist wohl gar nicht so schlecht, daß die weg ist!

Nach dem Urlaub stellt sich der frühere Limbi-Konsum bald wieder her – warum auch nicht, A. hat sich ja bewiesen, daß er es nicht braucht und es im Griff hat! – Die Leistungsfähigkeit im Büro bleibt beeinträchtigt. Der Chef mahnt, er müsse ihn aus dem neuen Projekt rausnehmen, wenn er sein früheres Leistungsniveau nicht bald wieder erreicht habe. Das Projekt ist spannend und die Voraussetzung für den nächsten Karrieresprung. Vielleicht ist ja doch Limbi schuld, oder wahrscheinlich nicht Limbi sondern die blöden Schlafstörungen. Aber vielleicht gehen die weg, wenn er weniger Limbi nimmt.

Er macht eine Konsumpause. In dieser Zeit ist er ständig gereizt, einige Kollegen finden ihn unausstehlich. Er kann das mit vorübergehendem vermehrtem Alkoholkonsum beheben. – Nach einiger Zeit ist er wieder fit genug für das Projekt. Als alles wieder gut läuft, gönnt er sich Limbi wieder, aber er nimmt sich vor, jetzt nicht mehr so viel zu konsumieren, daß es wieder zu Schlafstörungen führt. Er nimmt es jetzt nur noch jeden zweiten Tag und nur noch eine Dosis pro Feierabend.

Das geht einige Wochen gut. Dann fühlt er sich an einem limbifreien Tag so erschöpft und er hatte einen so schweren Tag gehabt und so viel geleistet, daß er sich guten Gewissens eine Ausnahme gestattet. – Von da an gestattet er sich immer öfter Ausnahmen. – Nach einigen Monaten ist er auf seinem früheren Niveau. – Die ersten Schlafstörungen lassen nicht mehr lange auf sich warten. –

Der Chef wartet auch eines Morgens auf ihn. Er teilt ihm mit, daß er ihn aus dem Projekt herausnimmt: „Möglicherweise läuft gerade etwas in Ihrem Leben nicht so gut. Das ist ja nicht das letzte Projekt dieser Art. Wenn es Ihnen wieder besser geht, komme ich beim nächsten Projekt auf Sie zurück.“ – So ärgerlich A. das auch findet, muß er sich doch eingestehen, daß er auch ein bisschen erleichtert ist. Er denkt: „Vielleicht nicht verkehrt, mal etwas kürzer zu treten. Der Chef hat recht, das nächste tolle Projekt wird nicht lange auf sich warten lassen. Da bin ich dann wieder dabei. – Außerdem: ich kann mich jetzt mehr auf mein privates Projekt konzentrieren!“

Die Arbeiten an der Erfindung seines neuen Kunststoffs sind weit gediehen. A. hat dafür den richtigen Forscherinstinkt: er hat bereits einige kleine Erfindungen gemacht, die er patentieren lassen könnte, aber sie sind nur kleine Schritte auf der Fährte, die er verfolgt. Von Kind an war er von Chemie begeistert. Die Arbeit im Labor fasziniert ihn und verschafft ihm Erfolgserlebnisse. Und er hofft, mit seiner Erfindung einen Beitrag zum Umweltschutz leisten zu können – und nicht zuletzt: wenn es klappt, wird er Millionär und kann sich seinen Traum erfüllen: ein Ferienhaus in seiner Lieblingslandschaft.

Allerdings: wegen dem Frust, aus dem Projekt ausgeschieden worden zu sein, gönnt er sich erstmal mehr Limbi. Es ist ja bloß eine Phase… – Nach einigen Wochen denkt er: Mhm. Die Phase ist doch etwas länger. – Nach einigen Monaten denkt er: Mhm. Die Phase ist viel länger, als erwartet. Aber was solls, mein Labor rennt mir nicht weg. Eine Frau hat mich verlassen, das Projekt haben sie mir genommen und ich bin vermutlich in der Mitlifecrisis, das muß man alles erst mal verarbeiten. Wahrscheinlich ist das völlig normal, daß man mal im Leben so eine Phase hat…

 

Kommentar:

Sucht wächst. Doch so langsam, daß man sich darüber hinwegtäuschen kann. Das macht es so tückisch. Limbi macht sich in A.´s Leben immer breiter. Limbi bestimmt mehr und mehr darüber, was in A´s Leben noch läuft und was nicht mehr. A. verliert an Selbstbestimmung. Das nennt man Abhängigkeit. – A. interpretiert jedoch jeden limbi-bedingten Verlust anders: Die Partnerin ist so toll nun auch wieder nicht, daß man alles für sie in Kauf nehmen würde. – Das Laborprojekt kann auch mal warten. – Karriereprojekte gibt es immer wieder, da kann man auch mal eins auslassen. – Man kann im Leben auch mal ne Phase haben, wo man ein bisschen kürzer treten muß. –

Möglicherweise hat A. mit dem allem ja Recht. Rein theoretisch muß das alles nicht falsch sein. Dann hat er jetzt mal ein Jahr, wo er auf der Stelle tritt oder ein wenig zurück rutscht. Nächstes Jahr lässt er Limbi vielleicht weg, findet eine neue, attraktivere Partnerin, hat Erfolg im nächsten Karriereprojekt und kommt mit seiner Erfindung weiter und nimmt Limbi nie wieder so, daß ein Mädchen meckert oder Morpheus ausbleibt. – Weiß man´s? Weil es rein theoretisch möglich ist, erlaubt man sich es anzunehmen. Deshalb glaubt man: man hat noch alles im Griff, man ist bloß mal in einem Wellental des Lebens, nächstes Jahr ist man wieder obenauf… – Vielleicht. Aber was, wenn nicht…?