Sinn und Schaden von Selbstkontrolltrainings für Abhängige

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Immer wieder mal höre ich von Abhängigen, die es geschafft haben sollen, wieder unproblematisch zu trinken. Wenn ich dann nachfrage, erfahre ich: Oft war es zwar ein reduziertes aber kein unproblematisches Trinken und immer waren die Zeiträume nicht lang: „Seit zwei Jahren trinkt sie wieder ab und zu Wein!“ – Ja, schön, seit zwei Jahren! Wenn sie noch eine Lebenserwartung von mehr als 10 Jahren hat, dann hat der Teufel noch viel Zeit, steht in einer Ecke und grinst.

 

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Die bisherigen Erfahrungen sowie die neuropsychologischen Modelle des Lernens legen nahe, daß Abhängige, die versuchen, unproblematisch zu konsumieren, egal, wie sie es anstellen, damit früher oder später doch wieder mehr Probleme bekommen, als sie haben wollen. Und manche dieser Probleme heißen: Führerscheinverlust, Ehescheidung, Unfall, Jobverlust, Diabethes, Schlaganfall, Krebs, Leberzirrhose, verfrühte Demenz…

„Herr Lintzen, strenggenommen wissen wir das nicht, es gibt nicht genug Langzeitbeobachtungen!“, wirft der Wissenschaftler ein. Gut. Aber deshalb wissen wir ja auch nicht, ob es je einen Abhängigen gegeben hat, der nach der Entgiftung jahrelang bloß mal ab und zu zwei drei Bier pro Woche getrunken hat (s.u.: „Das unentdeckte Fabelwesen“).

 

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Dennoch sind Selbstkontrolltrainings zur Reduktion der Konsummenge in bestimmten Fällen möglicherweise sinnvoll: Für die Menschen, die noch nicht glauben, daß sie nie mehr unproblematisch konsumieren können. Früher wurden sie mit ihren Kontrollexperimenten allein gelassen. Das Training ermöglicht es ihnen, unter kontrollierten Bedingungen herauszufinden, ob sie noch eine dauerhafte Kontrolle ihrer Konsummenge erreichen können und wenn ja, ob der dafür nötige Aufwand sich lohnt.

(Viele Abhängige, die einen Weg gefunden haben, „kontrolliert“ zu trinken, kehren nach einiger Zeit zur Abstinenz zurück, irgendwann wurde es ihnen zu blöd mit dem „Zusammenreißen“, oder mit der Unfreiheit („mal einen Abend meine Dosis weglassen, geht nicht“) – oder mit dem Kreisen der Gedanken um den nächsten erlaubten Konsum.)

Weil es keine eindeutigen Kriterien gibt, wann jemand so „abhängig“ ist, daß er nicht mehr dauerhaft unproblematisch konsumieren kann, können viele, denen wegen der Diagnose „Abhängigkeit“ Abstinenz nahegelegt wird, nicht glauben, daß ihre Selbstbestimmung bezüglich des Konsums unkalkulierbar beeinträchtigt sein sollte.

Dieser Zweifel am Verlust verläßlicher Selbstbestimmung wurde von den Abhängigen selber als zentrales Problem erkannt:  Die Anonymen Alkoholiker, die Pioniere der Suchttherapie, nennen es: „Kapitulation“: sich einzugestehen, gegen die Suchtdynamik machtlos zu sein, und das „Ringens“ mit der Sucht, durch Abstinenz zu beenden.

Die Versuche, kontrolliert zu Trinken, führten in vielen Fällen zur völligen Zerrüttung. Dadurch entstand der Mythos, man müsse erst „ganz unten“ sein, um eine Abstinenzentscheidung treffen zu können. – Richtig an diesem Mythos ist: Für Verzicht auf etwas, das soviel Spaß, Erleichterung, Trost, Wohlbefinden und was nicht alles an tollen Gefühlen und Erlebnissen ermöglicht, und zwar verläßlich und sozusagen „auf Knopfdruck“: für den Verzicht auf soetwas brauchen wir gute Gründe, sehr gute Gründe.

Die Kunst der modernen Suchtherapie besteht u.a. darin, Betroffene darin zu unterstützen, so gute Gründe möglichst früh zu finden, bevor viel zu Bruch gegangen ist. Das Selbstkontrolltraining könnte dabei hilfreich sein: Wer trotz Training erlebt, daß es nicht geht oder sich nicht lohnt, „kontrolliert“ zu konsumieren, kann die Entscheidung zur Abstinenz, zur „Kapitulation“ überzeugter treffen.

 

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Allerdings: Konsumkontrolltraining für Menschen, bei denen erfahrene Fachkräfte Abhängigkeit diagnostiziert haben, ist keine ungefährliche „Medizin“:

(1) Man kann nie wissen, wie lange es klappt, und was alles passiert, wenn es nicht mehr klappt.

(2) Auch regelmäßiger kontrollierter Konsum ist gesundheitsschädlich. Die definitiv unschädliche tägliche Alkoholmenge beträgt weniger als 0,1 l Wein.

Ein fiktives Beispiel, wie ein langfristig relativ erfolgreich erscheinendes Training zu schwerem Schaden führen kann:

Ein Mann trinkt seit 10 Jahren fast täglich 6 Bier a 0,5 l. – Er weiß, daß das auf Dauer zu viel ist, versucht den Konsum zu reduzieren, schafft es aber nicht. Abstinenz scheint im unzumutbar, also absolviert er ein Selbstkontrolltraining. Er schafft es, seinen Konsum überwiegend stabil auf 5 Trinktage pro Woche a 3 Bier zu reduzieren, ausgenommen sind Feiern, da läßt er sein Trinken „frei“. – Obwohl sein Blutdruck erhöht bleibt, bessert sich sein Gesundheitszustand deutlich, sein Wohlbefinden auch. Nach zwei Jahren nimmt seine Trinkmenge zu. Nach einigen Monaten ist er wieder bei seinen täglichen 6 Bier. Das geht längere Zeit gut, bis wieder die alten Beschwerden kommen. Vier Jahre nach seiner ersten Konsumreduktion absolviert er ein Auffrischungstraining und reduziert wieder auf sein „kontrolliertes“ Trinkmuster. Nach zwei Jahren kriegt er einen Schlaganfall. – Ohne Selbstkontrolltraining hätte er vielleicht nach ein bis zwei Jahren Selbstversuch die Kontrollversuche aufgegeben und sich für die Abstinenz entschieden und keinen Schlaganfall bekommen.

Sicher, der Fall ist konstruiert. Wir wissen nicht, bei wie vielen Betroffenen es zu so einer malignen Entwicklung kommen wird, und wir werden es auch nie wissen, weil wir in einem solchen Fall nicht untersuchen können, ob der Betroffene sich ohne das Kontrolltraining für Abstinenz entschieden oder wegen unreduzierter Trinkmengen schon viel früher einen Schlaganfall bekommen hätte.

Der Sinn dieses Gedankenexperiments ist: Angebote von Kontrolltrainings müssen auf Fälle wie diesen vorbereitet sein. Die Möglichkeit solcher Verläufe muß besprochen werden! Die Betroffenen brauchen Kriterien, wann sie professionelle Assistenz zur Zielreflektion in Anspruch nehmen sollten.

 

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Aus meiner Sicht ist ein Angebot für KT nur seriös wenn es zwei Bedingungen erfüllt:

  • Eine Aufklärung über die Toxizität auch moderater Alkoholmengen, wenn sie regelmäßig konsumiert werden.
  • Eine therapeutisch qualifizierte Assistenz der Betroffenen bei der Erforschung ihrer Abstinenzangst im Hinblick auf die Frage, was ihnen am Alkohol so wichtig ist, daß sie unabsehbare Risiken dafür in Kauf nehmen.

Auch Selbsthilfebücher zum Kontrolliert Trinken sollten Indikatoren vermitteln, an denen Betroffene erkennen können, daß sie ein Risiko eingehen, wenn sie keine professionelle Hilfe aufsuchen. – Und sie sollten in jedem Fall einschlägige Warnhinweise enthalten.

 

Nachbemerkung 1:

Ich muß zugeben: Ich bin schwer vom Kontrollierten Konsum als Alternative zur Abstinenz zu überzeugen. Wozu für so etwas wie Bier noch ein Risiko eingehen?

 Menschen, denen der Alkohol so wichtig ist, können sich nicht vorstellen, daß Mutter Natur sie mit einem tollen Gehirn ausgestattet hat,  so toll, das es alles, was wir für ein wunderbares oder zumindest zufriedenstellendes und gelingendes Leben brauchen, selber herstellen kann, ohne Zusatzsubstanzen zu benötigen.

Die meisten Abhängigen können sich auch nicht vorstellen, daß Abstinenz viel leichter ist, als sie glauben. Die meisten Abstinenten vermissen nach 2 -3 Jahren nichts mehr und brauchen auch nicht oft gegen Konsumverlangen anzukämpfen. Ihre Abhängigkeit ist zum Stillstand gekommen und zickt nur noch selten ´rum.

Nachbemerkung 2

„Wenn der das schafft, schaff ich das auch!“: Das ist ein Fehlschluß. Vergleichen ist Unsinn, dafür ist unser Gehirn zu kompliziert. Bei jedem, der mehrere Jahre problematisch Suchtmittel konsumiert hat, ist ein neuronales Netzwerk entstanden (ein „Lerneffekt“) und je nachdem, wie stark es vernetzt ist, ist die Kontrolle des Suchtverhaltens einfach nicht mehr verläßlich möglich, selbst den genialsten, durchsetzungsfähigsten und erfolgreichsten Menschen nicht.

Wir müssen endlich verstehen: Unser Gehirn ist „kontraintuitiv“: es ist komplizierter, als unsere Intuition es fassen kann.

Wenn tatsächlich irgend ein Mensch, bei dem Abhängigkeit zu Recht diagnostiziert wurde, es schaffen sollte, wieder dauerhaft kontrolliert zu trinken, dann kann kein anderer Betroffener wissen, ob er selbst das auch schafft.

Es wäre Blödsinn zu sagen: „Wenn es prinzipiell schaffbar ist, dann wird so ein tüchtiger, erfolgreicher und intelligenter Mensch wie ich, es bestimmt auch schaffen!“

Wenn Sie sich dafür entscheiden, trotz einer Abhängigkeitsdiagnose auszuprobieren, ob Sie noch kontrolliert Trinken können, dann ist es empfehlenswert, es so zu tun, als ob Sie einen vereisten See betreten, dessen Eis Sie nicht trauen.

Aber Sie dürfen sich auch die Frage stellen: „Was ist mir denn so wichtig am Alkohol, daß ich dafür Risiken eingehen will? Glaube ich wirklich, daß ich das, was ich mit Alkohol erreichen will, nicht auch ohne hinkriege?“