Suchttherapeutische Bemerkungen zur Opiatmedikation bei chronischen Schmerzen

Hinweis: Diese Bemerkungen sind nicht medizinisch qualifiziert, weil ich kein Arzt bin, noch mich mit dem aktuellen Forschungsstand bezüglich des Themas befaßt habe. – Sinn dieser Bemerkungen ist es, daß Sie Anhaltspunkte bekommen für Ihre eigenen Recherchen und für Fragen an Ihre Ärzte.

(1) Ich habe einige Patienten gesehen, die seit über 10 Jahren täglich Opiate gegen chronifizierte Schmerzen nehmen, ohne Dosissteigerung und ohne daß ich Hinweise auf substanzbedingte Veränderungen des Verhaltens oder Erlebens erkennen konnte. – Offenbar ist – zumindest bei manchen Betroffenen – eine Langzeit-Opiat-Schmerzmedikation ohne Nebenfolgen möglich – abgesehen von dem Problem, daß Entzugserscheinungen auftreten, wenn das Medikament nicht regelmäßig genommen wird.

(2) Zwei Betroffene, die wegen typischer Suchtsymptome zu mir kamen, hatten Opiate vorsätzlich mißbräuchlich eingenommen – sich also nicht an den Rahmen der schmerztherapeutischen Verordnung gehalten. – Da beide Betroffenen nach der ersten Sitzung nicht mehr erschienen, konnte ich nicht herausfinden, wie es zu dem Übergang von der verordneten zur mißbräuchlichen Einnahme kam. – Soweit ich sehe, gibt es dazu auch noch keine Forschungen.

(3) Die Entgleisung der Opiatvergabe in den USA hat mit einer unprofessionellen Verordnungspraxis zu tun: Für jedes Wehwehchen wurden gleich hochpotente Opiate verschrieben. – Aus dieser Entgleisung darf nicht auf die professionelle Opiat-Medikation im Rahmen der Behandlung chronischer Schmerzen geschlossen werden. Nicht der Wirkstoff sondern die dilletantische Vergabepraxis war für das Desaster in den Vereinigten Staaten verantwortlich.

(Weiterlesen: https://www.spektrum.de/wissen/5-fakten-zur-opioid-krise-in-den-usa/1544581)

(4) Mit moderaten chronischen Schmerzsyndromen können Betroffene durchaus ohne Medikamente – oder mit einer nicht-opioiden Bedarfsmedikation – ein weitgehend unbeeinträchtigtes Leben führen. Daher sollte der Opiattrumph nicht zu früh ausgespielt werden, am besten erst nach einer verhaltenstherapeutischen Schmerzbehandlung, in der versucht wird, ohne Medikamente mit den Schmerzen zurecht zu kommen.

(5) Bei einer dauerhaften täglichen Einnahme nicht-opioider Schmerzmittel sollte erwogen werden, ob eine Opiatmedikation vorzuziehen ist, weil eine dauerhafte nicht-opiode Schmerzmittelmedikation zu gravierenden gesundheitlichen Folgeproblemen führen kann – im Gegensatz zu Opiaten, die auch bei dauerhafter Einnahme nahezu nebenwirkungsfrei bleiben, solange sie richtig dosiert werden und keine Sucht entsteht.

(6) Wann wird Abhängigkeit zur Sucht? Eine Opiatmedikation halte ich für unbedenklich, solange die Dosis stabil bleibt und solange Verhalten und Erleben nicht substanzbedingt verändert werden. – Erst wenn die Substanz nicht mehr allein zur Schmerzlinderung eingenommen wird, sondern weil sie so schöne Gefühle macht, ist die Grenze zur Suchtentwicklung überschritten. – Warum?

Schöne Gefühle gibt es durch gutes Verhalten – wie z.B. durch eine ausgewogene Lebensführung mit angemessener beruflicher Belastung und sinnvollen Freizeitbeschäftigungen. – Wenn man schöne Gefühle durch Substanzen herbeiführt – wie z.B. durch Alkohol oder Opiate – dann besteht die Gefahr, auf die Substanz angewiesen zu werden: Ohne Substanzeinnahme hat man dann zuwenig schöne Gefühle und Behaglichkeit.

So sehen wir z.B. daß zu hohe berufliche Belastung häufig mit zu hohem Alkoholkonsum ausgelichen wird – mit der Erlaubnis: „Ich war so fleißig, da darf ich doch!“ – Mit Prinzip handelt es sich hier um „Doping“. Nicht anders, wie wenn Stressfolgen aufgrund zu hoher berufliche Belastung durch die Gabe von Antidepressiva bekämpft werden. Der Organismus signalisiert: „so geht das nicht“, aber sein Signal wird mit Hilfe chemischer Keulen ignoriert. Das ist ein kleiner Pakt mit dem Teufel.

Wenn eine Opiatmedikation dazu führen sollte, daß außer Schmerzlinderung regelmäßig auch so ein schönes Entspannungs- oder Zufriedenheitsgefühl eintritt, ist die Grenze zur Entwicklung einer Sucht überschritten. Dann besteht die Gefahr, daß die Dosis über das für die Schmerzlinderung erforderliche Maß gesteigert wird.

Entspannung und Zufriedenheit sollten wir durch die Kunst unserer Lebensführung in hinreichendem Maße bekommen, nicht durch Zufuhr von Substanzen. Die Grundregel ist: Alles, was wir selber machen können, sollten wir nicht durch Substanzen herbeiführen.

(7) Falls Sie unter chronischen Schmerzen leiden, wenden Sie sich bitte unbedingt an eine Fachärztin oder einen Facharzt für Schmerzmedizin. Sie können mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärzten über deren Verordnung diskutieren, eventuell eine Zweitmeinung einholen, und so zusammen mit Ärzten die für Sie passende Verordnung entwickeln. Aber halten Sie sich bitte unbedingt an die Verordnung, die Sie dann zuletzt mit den Ärzten abgesprochen haben!