Verlangen verdreht uns Menschen den Kopf, da gibt es keinen Unterschied zwischen Menschen, die eine Substanz- oder Verhaltensabhängigkeit entwickelt haben und Menschen, die von Liebe oder Hunger zu Taten hingerissen werden, die sie hinterher närrisch finden.
Wie schafft das Verlangen das?
Wir glauben, Herr im eigenen Haus zu sein. Wir glauben, es gut genug im Griff zu haben, um ein klein wenig zu weit gehen zu können, ein klein wenig mit dem Feuer spielen zu können – es ist ja nur ein klein wenig! – Und wenn wir merken, daß es beginnt problematisch zu werden, dann stoppen wir einfach, wo ist das Problem, wir sind doch nicht so blöd uns selber zu schaden!
Nach entgleisten Rückfällen fragen sich Abhängige, wie das möglich war, daß sie nach all ihrer Erfahrung mit Rückfällen und Kontrollverlusten sich doch wieder „aufs Glatteis“ begeben haben.
Was beim Erleben starken Verlangens passiert ist: Man glaubt nicht mehr, daß die eigenen Erfahrungen mit Kontrollverlust so absolut stimmen, wie man das vorher geglaubt hat. Man glaubt nicht mehr, daß es wirklich auch in dieser konkreten Situation notwendig ist, die Abstinenz durchzuhalten. Man glaubt stattdessem, daß man sich diesen einen Rückfall leisten kann, entweder, weil man so ein gutes Gefühl hat, es im Griff zu haben, oder weil – im schlimmsten Falle – nicht viel passieren kann.
Man erlebt Kontrollgewißheit: „Jetzt ist doch was anders als sonst, unter diesen Bedigungen kann doch gar nichts passieren, zumal nach so langer Abstinenz und nach so erfolgreicher Entwicklung meines Lebens! Die Leute, mit denen ich hier sitze, trinken doch alle nicht viel und haben mir versprochen, auf mich aufzupassen. Und falls es doch ausufern sollte, kann es nicht sehr schlimm werden, denn ich habe ja Urlaub, bevor ich wieder bei meiner Frau bin und zur Arbeit muß, bin ich wieder nüchtern!“
Solche und andere Überlegungen führen oft dazu, daß im Leben was Wichtiges zu Bruch geht. Nicht unbedingt bei diesem Rückfall. Aber vielleicht beim nächsten oder übernächsten, den man sich erlauben kann, weil der erste ja gut geklappt hat. – Es gilt auch hier: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht“.
Und es muß hinzugefügt werden: Solange er nicht gebrochen ist, geht er immer wieder zum Brunnen, da kann man sich vornehmen so viel man will, daß es jetzt das allerletzte Mal sein sollte oder eine ganz ganz seltene Ausnahme, weil man doch gerade ein Haus gekauft hat, und so schnell kauft man keins mehr… (Wer sich auf diese seltene Ausnahme einläßt, wird erleben, daß die seltenen Ausnahmen immer häufiger werden…)
Zur Vorbeugung von Rückfällen empfiehlt es sich, auf jeden Gedanken an das Suchtmittel zu achten, ihn „aufzuspießen“, um abzuschecken, ob in diesem Gedanken irgendetwas mitschwang, was die Abstinenz in Frage stellte. Irgend eine vage, flüchtige Vorstellung, daß man nach längerer Abstinenz in ganz besonderen Situation doch vielleicht noch mal probieren könnte, ob es nicht wieder geht; daß die eigene Abhängigkeitsentwicklung vielleicht ja doch noch nicht so weit ist, daß man nie wieder was konsumieren kann; daß es vielleicht doch noch ganz besondere Bedingungen geben könnte, in denen es nicht zuviel wird, wenn man bloß gut genug aufpaßt und sich streng an das hält, was man sich vorgenommen hat, kein Tröpfchen mehr; daß es doch für jede Regel eine Ausnahme gibt, daß doch nirgendwo so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird…
Doch, bei der Abstinenz schon, da wird es genauso so heiß gegessen, wie es gekocht wird, bei der Abstinenz gibt es keine Lauheit.
Unser Gehirn ist stärker als wir. Wir können uns maximal hundert Jahre lang trainieren, unser Gehirn aber hatte Jahrmillionen Zeit, sich auf Vordermann zu bringen, im härtesten Training aller Zeiten: der Evolution. Dagegen haben wir keine Chance. Ist das abhängige Verhalten lange und ausgiebig genug geübt worden, entsteht ein Suchtgedächtnis, das fähig ist, den Verstand abzustellen und auf Autopilot weiterzumachen. Da hilft dann nur noch, dieses Gedächtnis deaktiviert zu lassen, und falls es doch mal aktiviert werden sollte, es möglichst schnell wieder runter zu fahren, bevor es zu weit hochgefahren ist.
Hilfreiche Gedanken im Vorfeld könnten sein:
„Sicher, es wäre schön, es noch mal zu machen, aber es wird nichts bringen. Früher oder später wird es wieder zu viel und der Preis zu hoch. Ich habe es doch oft genug probiert, und immer habe ich mir früher oder später bös die Finger verbrannt! – Nach all dem, was ich erlebt habe ist doch Eines ganz klar: Die Vorstellung, daß es doch noch irgend eine Möglichkeit gebe, es kontrollieren zu können, ist eine Illusion. Eine Illusion die deshab entsteht, weil wir nicht unmittelbar spüren können, was wir können. Was wir können merken wir erst, wenn wir es tun. Und ich kann meiner Sucht frönen, bis alles zu Bruch geht. Klingt komisch, aber dazu braucht es viel Training. Andere kriegen das gar nicht hin, selbst wenn sie wollten, sie würden schlapp machen, lange bevor was zu Bruch geht. – Ich bin zuweit gegangen, ich hab zuviel trainiert, ich kann’s zu gut, so gut, daß es mir entgleitet, so gut, daß es mächtiger geworden ist, als ich. Und das geht nie wieder weg, genauso wenig wie Radfahren- oder Schwimmenkönnen. Da hilft nur: es zu lassen!“
Hilfreich können Bilder sein wie: Bei Glatteis eine abschüssige Fläche zu betreten. Bestenfalls landet man auf dem Arsch, schlimmstenfalls rutscht man in den fließenden Verkehr oder über ein Klippe… – Oder: Im ausgedörrten Sommerwald ein Lagerfeuer entzünden: „Och, ist ja nur ein ganz kleines, und ich paß auch ganz doll auf, versprochen!“
Hilfreich kann sein, sich daran zu erinnern, daß jede Situation des Verlangens ein super Training für die Abstinenz ist: Da kann ich Alternativen zu meinem Suchtverhalten testen und entwickeln, da kann ich üben, das Verlangen zu bewältigen, notfalls dadurch, daß ich es einfach aushalte ohne es zu bedienen, und dabei die Erfahrung mache, daß es gar nicht so schlimm war, ihm zu widerstehen, lange nicht so schlimm, wie mir das Verlangen vorgaukeln wollte.
Hilfreich kann nicht zuletzt sein, die Erleichterung zu genießen, die entsteht, wenn man sich vergegenwärtig: „In so einer Situation wie gestern, hätte ich früher getrunken – wie Scheiße würde sich das heute anfühlen wenn ich das gestern wieder gemacht hätte! Das darf ich mir gar nicht vorstellen! Wie bescheuert ist das denn, sich die Tage so zu vermiesen! Mal abgesehen von den Risiken! Paßt es wirklich zu mir, jemand zu sein, dem so ein Spaß so wichtig ist, daß er dafür solche Risiken eingeht und so einen Preis in Kauf nimmt?“
Das Ziel ist die Stärkung des „Abstinenzgedächtnisses“, das irgendwann mal ebenso auf Autopilot schalten kann, wie das Suchtgedächtnis. Erfahrene Abstinente kennen das gut, sie sagen: „Irgendwann hat es bei mir Klick gemacht.“
(Hintergründe dazu in: Die Tücken der Sucht.)