Stichworte zur Anregung einer Diskussion
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Sucht ist ein Trainingseffekt: Mit jedem Tag, an dem die Sucht nicht durch Abstinenz zum Stillstand gebracht wird, wächst sie weiter! Und je weiter sie wächst, mit desto häufigeren und heftigeren Rückfällen muß gerechnet werden, selbst nach einem Abstinenzentschluß. Und je mehr Rückfälle, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von gesundheitlichen, seelischen oder sozialen Schäden.
Aus meiner Sicht sollte Sucht daher entweder nur in Fachkliniken und Fachambulanzen behandelt werden, wo durch die Team-Intervision sichergestellt ist, daß die Erfahrung aller Kollegen den Patienten zu Gute kommt, oder bei niedergelassenen Therapeuten, die mindestens 5 Jahre in Facheinrichtungen hauptberuflich Abhängige behandelt haben. Für solche Therapeuten hielte ich eine offizielle Bezeichnung, wie z.B. „Suchtfachtherapeut“ für sinnvoll (Anm. 1).
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Die Grundstruktur der Sucht scheint einfach: auf 20 Seiten könnte sie erschöpfend dargestellt werden. Das Störungsbild und die Entwicklung zu einer stabilen Abstinenz sind jedoch in ihrer Langfristigkeit und Vielgestaltigkeit schwer zu überblicken. Verwirrend ist auch, daß manche Betroffene recht unkompliziert und ohne spezifische Unterstützung eine stabile Abstinenz entwickeln, während bei anderen alles vergeblich erscheint. Diese Umstände können leicht dazu führen, daß man glaubt, sich mit dem Störungsbild hinreichend auszukennen, und alles, was nicht funktioniert, als „Anomalien“ abtut oder als „Sucht“ mystifiziert.
Freilich ist es durchaus möglich, daß auch eine nicht-störungsspezifische Psychotherapie zur Abstinenz verhilft. Aber weder gibt es darüber verlässliche Zahlen, noch ist es wahrscheinlich, daß das mit so wenigen Rückfällen oder unnötigen Verlängerungen des abhängigen Konsums geschieht, wie bei „Fachtherapeuten“. Außerdem ist nicht prognostizierbar, bei welchen Patienten eine Chance besteht, daß sie von einer unspezifischen Therapie profitieren und bei welchen nicht. Es ist aus meiner Sicht ein Gebot der Patientensicherheit, Abhängige an Facheinrichtungen oder „Fachtherapeuten“ zu überweisen!
Auch in den ersten Stadien von Abhängigkeit ist ein hohes Maß fachspezifischer Kompetenz sinnvoll. Abhängigkeit zeichnet sich ja dadurch aus, daß die Betroffenen daran zweifeln, abhängig zu sein. Gerade in den diagnostischen Grauzonen kommt es deshalb darauf an, die Betroffenen einerseits kompetent mit der Funktionalität ihres Suchtmittels vertraut zu machen, denn nur wenn sie verstehen, was die Abhängigkeit funktional ausmacht, bekommen sie eine Vorstellung davon, was Abhängigkeit bedeutet. – Es kommt ferner darauf an, die Betroffenen mit der Art ihrer Zweifel an der Abstinenz vertraut zu machen, mit ihnen zusammen die „Kämpfe“ antizipieren zu können, die sie bezüglich des Hin- und Hers zwischen Abstinenz- und Abstinenzbeendigungsentscheidung durchzufechten haben werden. Und es kommt darauf an, sie zu befähigen, die Erfahrungen, die sie mit einer eventuellen Abstinenzbeendigung machen, gezielt auszuwerten.
Es wird leicht verkannt, was störungsspezifische Arbeit bedeutet: die Anleitung der Betroffenen, die Strukturen der Sucht in ihrem Fühlen und Denken sicher und spontan genug zu erkennen und treffsicher darauf zu reagieren. Diese Anleitung erfordert viel „Intuition“ für die Winkelzüge der Sucht, viel implizites Wissen, das nur durch Erfahrung zu haben ist.
Was einen guten Suchttherapeuten ausmacht ist auch: gezielte, gekonnte und von der Sache her schonungslose Konfrontation zu kombinieren mit „echter“ Solidarität. „Echte“ Solidarität erfordert störungsspezifische Nachvollzugsfähigkeit: Wer sich als Therapeut nicht gut genug vorstellen kann, mit welchen Schwierigkeiten Verhaltensrückfällige zu kämpfen hatten, wird es schwer haben, sich mit hartnäckig rückfälligen Patienten „echt“ zu solidarisieren. Stattdessen werden Reste einer vorbewußten Tendenz zu unwillkürlich entsolidarisierender Verständnislosigkeit wirksam, die die Patienten unterschwellig und subtil moralisch in Frage stellen: ob sie denn wirklich schon den richtigen Willen haben und sich aufrichtig genug anstrengen, oder ob sie sich in Wirklichkeit noch was vormachen und rumtricksen, um sich nicht konsequent vom Problemverhalten verabschieden zu müssen. Aber genau solche unterschwelligen Moralisierungen mobilisieren bei den Adressaten den Widerstand.
Die Verbindung von Konfrontation und Solidarität ist nicht schwer, wenn man sie kann, aber es ist nicht leicht, sie zu lernen. Dafür braucht es viel Erfahrung. Sowenig wie die Lektüre eines Tangolehrbuchs einen guten Tänzer macht, sowenig helfen hier allein die durch Lehrer und Lehrbücher vermittelbaren Einsichten – obwohl die schon sehr hilfreich sind und die Entwicklung zum guten Kliniker stark verkürzen können.
Spätestens bei „hartnäckigen“ Fällen, sollte ein Therapeut mit langjähriger spezifischer Erfahrung aufgesucht oder an ihn überwiesen werden.
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Ich schätze, erfahrene Spezialisten der Psychotherapie von Adipositas wären auch ohne große Weiterbildung gute Suchttherapeuten. Die Vorgänge bei den „Rückfällen“ sind bei Adipösen und Süchtigen strukturell ähnlich: Im Rahmen einer funktionalen Dynamik (z.B. Essen als Antidepressivum) entstehen über das Prinzip „der Wunsch ist der Vater des Gedankens“ Bagatellisierungen, Entschuldigungen, Erlaubnisse, scheinbar gedankenlos-impulsive Entscheidungen oder Formen trotziger Scheinselbstbestimmung (wie z.B.: „ich entscheide das jetzt einfach mal so!“). – Wegen dieser Strukturanalogien des Rückfallverhaltens bei Sucht und Adipositas möchte ich anregen, über eine gemeinsame Fachqualifikation nachzudenken: „Fachtherapeut für Störungen mit Verhaltensrückfällen.“
Ich bin über die Adipositasversorgung nicht informiert genug, um mir ein Urteil erlauben zu können, ich weiß nicht, wie viele erfahrene Ernährungspsychotherapeuten praktizieren. Möglicherweise könnte die Adipositasversorgung aber durch weitergebildete Suchttherapeuten so weit verbessert werden, daß so manche Magen-Bypaß-Operation unnötig würde…
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Immer noch höre oder lese ich, daß manche Ärzte und Psychotherapeuten angesichts der Rückfälle ihrer Patienten Sucht für nicht psychotherapeutisch behandelbar halten und glauben, es müsse eben doch die Pille ran (neuerdings Baclofen). Es gibt nicht nur immer noch viel Unkenntnis über die Möglichkeiten der modernen Suchttherapie (Anm. 2), sondern offenbar hat sich nicht mal der Wissensstand der Suchtforschung überall herumgesprochen, so daß viele noch auf das Falsche schauen: auf den einzelnen Rückfall – statt auf den Prozess der Abstinenzentwicklung.
Wenn eine Behandlung nicht erfolgreich war, sollte gefragt werden: wurde störungsspezifisch behandelt und wie viele störungsspezifische Behandlungen hat der Behandler bereits durchgeführt. – Bei Behandlungen in Facheinrichtungen sollte nach Setting und Dauer gefragt werden. Die Erwartungen sind oft unangemessen: Man schickt jemanden für 3 Monate „weg“ und glaubt, ihn therapiert wieder zu kriegen und wundert sich, wenn er wieder rückfällig wird. Daraus wird geschlossen, Abhängigkeit sei nicht behandelbar, statt zu fragen, ob die Behandlung ohne störungsspezifische Nachsorge zureichend und die Erwartung an die Abstinenzentwicklung realistisch war (Anm. 3).
Selbst wenn sich eine Fachqualifikation bezüglich Störungen mit Verhaltensrückfällen berufspolitisch nicht durchsetzen läßt gegen die gewachsenen Strukturen, könnte die Diskussion darüber dazu beitragen, das Wissen über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten störungsspezifischer Behandlungen besser zu verbreiten.
Anmerkungen:
1 Eine spezielle Suchttherapieausbildung halte ich nicht für erforderlich. Die zur Approbation führenden Psychotherapieausbildungen müßten allenfalls um ein oder zwei spezielle Zusatzmodule ergänzt werden. Die fachspezifische Ausbildung findet am effektivsten „on the job“ statt, in der Supervision der Arbeit in den Facheinrichtungen.
2 Beispielhaft ist das Buch des Baclofenpioniers Ameisen: Er hat offenbar keine moderne störungsspezifische Suchtbehandlung erfahren (jedenfalls berichtet er von keiner) und schließt aus der Vergeblichkeit all seiner Therapien, daß schließlich nur noch die Pille hilft. (Ameisen, Oliver, Das Ende meiner Sucht, München 2009).
3 Bei vielen Betroffenen mit drei, vier oder mehr stationären Therapien hat sich gezeigt, daß mit stationären Therapien alleine nicht immer etwas auszurichten ist: sie sind intensiv aber kurz und „unter der Käseglocke“. Deshalb haben die Kostenträger 2015 die Möglichkeit eingeräumt, im Anschluß an eine stationäre Reha eine ambulante zu beantragen. – Zuwenig genutzt wird auch die Möglichkeit, statt der x-ten stationären oder tagesklinischen Therapie (Dauer: 3-4 Monate) eine ambulante Therapie (Dauer: bis zu 18 Monate) mit Besuch einer Tagesstätte zu kombinieren. – Wir sehen immer wieder, daß bei Ärzten und Psychotherapeuten bereits die Kenntnisse über die Möglichkeiten der bestehenden Versorgungsstrukturen für Abhängige lückenhaft sind. – Möglicherweise findet so manche Behandlung nicht statt, weil Hausärzte keine Kenntnis von der Möglichkeit ambulanter Suchtbehandlung haben und Betoffenen nur die stationäre Variante empfehlen können, die für viele Berufstätige aber indiskutabel ist – abgesehen davon, daß sie für Berufstätige oft auch nicht indiziert ist. (Weiterlesen: ambulante Suchttherapie)