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Übersicht:
(1) Burn-Out bei Hochleistern
(2) Burn-Out bei Selbstlosigkeit
(3) Ausgeglichenheitsbilanz: Gratifikation, Synergie, Rhythmus
(1) Burn-Out bei Hochleistern
Überdurchschnittlich tüchtigen Menschen fällt es schwer, sich Anzeichen von Überforderung einzugestehen, das widerspricht ihrem Selbstbild und ihren Lebenszielen.
Wer solche solche Anzeichen bemerkt, hat zwei Anpassungsmöglichkeiten: weniger oder effektiver zu leisten.
(1.1) Effektiver Leisten
Das ist die Variante, die alle meine Patienten zunächst bevorzugen: Zu erforschen, wie das gleiche Leistungsniveau mit weniger Energie hinzukriegen ist.
Die „Uneffektivität“ von Leistungsstilen ist manchmal subtil und erfordert die gleiche Analyse des „motivationalen Systems“, wie die Erforschung des Selbstbestimmungsanteils im Erfolgsstreben (s.u. 1.2). Es gilt herauszufinden, was man alles „gratis“ noch mitleistet, ohne es bewußt zu wollen und zu merken.
Am „beliebtesten“ ist z.B. das, was ich die „60%-Delegation“ nenne: Aufgaben werden nach Maßgabe kluger Organisation delegiert, aber man schielt ständig auf die Mitarbeiter, versucht, sie im Blick zu behalten, mitzudenken, zu evaluieren usw. Und das alles geschieht so gewohnheitsmäßig und unterschwellig, daß man gar nicht weiß, wieviel man davon macht.
Oder: Manche wollen nicht nur leisten sondern auch für ihre Mitarbeiter sorgen. Sie sind nicht nur ständig auf sie aufmerksam, um „abzuchecken“, was sie gerade gut brauchen könnten oder gerne hätten, sondern sie „bedienen“ die „Bedarfe“ auch, das reicht von Hilfsbereitschaft über „Ein-Offenes-Ohr-Haben“ bis hin zu einer subtilen aber unentwegten witzigen, humorvollen „Performance“. – Heiß geschürte Feuer sind schneller ausgebrannt.
Wieder andere – selbst manche der Erfolgreichsten – leiden unter unterschwelligen Ängsten, nicht so gut zu sein, wie ihr Selbstbild fordert. Das führt zu unwillkürlichen Wechseln in eine reflektierte Einstellung, mit der sie nach Indizien dafür suchen, ob sie gut genug sind. – Das Problem dabei: In dem Maße, in dem wir auf unser Leisten aufmerksam werden, bremsen wir unsere Leistung. Gemeinsam ist solchen Verhaltensstilen:
Sie sind an sich Stärken: Der Kontrollierende überwacht die Prozesse, der Versorgende verbessert das Arbeitsklima und der Zweifelnde ist gefeiter vor dem klassischen Feldherrnfehler, Feinde und Schwierigkeiten zu unterschätzen. Doch das Berechtigte und Starke daran verleitet dazu, Übertreibungen zu rationalisieren: „Aber ich muß doch kontrollieren!“ – „Aber ich muß doch für meine Mitarbeiter dasein!“ – „Aber ich darf mich doch nicht in Sicherheit wiegen!“ – In Wirklichkeit geht es aber längst nicht mehr um angemessene Kontrolle, Versorgung und Vorsicht, sondern um die Vermeidung der Beunruhigung, die entsteht, wenn man sich nicht gemäß seiner Verhaltensbereitschaften verhält.
Sie sind „eingefleischt“: Sie sind in der Kindheit entstanden, dort hatten sie Sinn, z.B. in unzureichend verläßlichen oder wertschätzenden Umgebungen. Sie werden als das „Normale“, das „Stimmige“ erlebt, jede Abweichung davon als Fehlverhalten. Im Rahmen des „Stimmigen“ kann man das Ausmaß nicht bemerken, in dem man sich nicht einfach verhält, sondern bereits etwas leistet, denn dieses Verhalten ist ja als „normal“ definiert, nicht als Verausgabung, als „laufender Motor“, nicht als „Gasgeben“. Und deshalb hat man auch nicht das Gefühl etwas zu leisten. Und weil man kein Gefühl dafür hat, wieviel man eigentlich längst „macht“, hat man auch keins dafür, wieviel man anders machen könnte.
Vom eigenen gewachsenen Leistungsstil kommt man nicht mehr los. Aber das ist auch gut so, denn er ist ja eine Stärke. Man kann sich auf ihn verlassen: Ohne Anstrengung würde man es gar nicht hinkriegen, von dem, was er beinhaltet, zu wenig zu machen. Man muß bloß aufpassen, davon nicht zuviel zu machen! Und es ist sinnvoll, ihn durch alternative Stilelemente zu ergänzen: Elemente reflektierter Zurückhaltung, Abgrenzung, oder Risikobereitschaft. – Allerdings: Die Erkundung und Ergänzung des eignen Stils gelingt alleine ebenso unzureichend, wie Frisieren ohne Spiegel.
(1.2) Weniger Leisten
Weniger leisten, weniger Erfolg anstreben, ist auf unserer zivilisatorischen Entwicklungsstufe ein Tabu. (Irgendwann werden die Menschen darüber mitleidig den Kopf schütteln.) Wenn sie es vernünftig betrachten, ist es für viele Menschen zwar kein Problem, sich einzugestehen, daß der Preis für noch mehr Erfolg eigentlich zu hoch ist. Die Vernunft hat jedoch nur im kleinsten Teil des Gehirns etwas zu sagen. Bestrebungen und ihre Ziele sind tief ins Hirn gewachsen, und egal, wie wir „vernünftig“ zu diesen Bestrebungen stehen: unsere Hirne streben ihre Bestrebungen, ob wir wollen oder nicht. – Darauf verzichten, noch besser zu werden und noch größere Herausforderungen zu meistern? – Das Streben nach einem höheren Status aufgeben? – Bedeutung abtreten? – Und das alles bloß um einer eventuellen Erschöpfung vorzubeugen? – Das ist leicht gesagt… –
Es ist immer die Frage: Wie selbstbestimmt ist eigentlich die eigene Leistungsbereitschaft und das eigene Erfolgsstreben? – Die Antwort erfordert, das komplexe System zu reflektieren, das uns zur Leistung antreibt: die begabungsbedingten und lebensgeschichtlich entstandenen Bestrebungen sowie die Bewertungsneigungen, die uns an den Zielen festhalten lassen, die wir unseren Bestrebungen geben. All das hat sich in Kindheit und Jugend herausgebildet, da wußten wir noch nicht, was das, was uns widerfuhr und begegnete, bedeutet. Unsere Hirne organisierten sich selbst nach Maßgabe des individuell Erforderten, ohne uns zu fragen. Wir haben uns unsere Bestrebungen und Bewertungsneigungen nicht selbst ausgesucht. Um uns von ihnen zu emanzipieren, müssen wir verstehen, weshalb sie so geworden sind, wie sie sind, welchen Sinn sie einmal hatten, weshalb wir sie damals brauchten aber heute in dieser Form nicht mehr brauchen. Sie werden dadurch nicht verschwinden, aber man muß ihnen dann nicht mehr blind gehorchen.
Das Gelingen unseres Lebens muß nicht davon abhängen, daß wir so großen Erfolg haben, wie wir anstreben. Die Bestrebungen und Ziele, die unser Selbstbild konstituieren, sind entstanden ohne Wissen um unsere Möglichkeiten. Jedes Selbstbild enthält illusionäre Elemente. Das, was unser Selbstbild von uns verlangt, ist deshalb nicht immer im Einklang mit dem, was wir tatsächlich sind. – Die Kultivierung des wild gewachsenen Selbstbildes ist schwer: es verliert seine Wildheit nie ganz, es wird nie ganz damit aufhören, dazwischen zu funken und „Ich will aber!“ zu rufen. Jemand dessen Selbstbild vorschreibt, mindestens Minister zu werden, wird sich immer irgendwie verkehrt fühlen, wenn er sich mit einem geringeren Posten zufrieden gibt.
Man muß öfter Erfahrungen mit seinen Leistungsgrenzen gesammelt und sie immer bewußter ausgewertet haben, bevor man sagen kann: „Selbst wenn ich das schaffen würde: für mich wäre der Preis zu hoch, es würde sich nicht lohnen!“ – Viele Menschen führen Reflektionen dieser Art jedoch nie durch. Sie bleiben fremdbestimmt von den Bedingungen ihrer Lebensgeschichte, die den Wildwuchs ihrer Bestrebungen und Bewertungen determinierten.
Allerdings: Wir müssen nicht gleich all unsere Ziele und Träume in Frage stellen. Es gibt einen Trick, wie die Anpassung von Wunsch und Wirklichkeit erleichtert werden kann: durch kluge Konvergenzen. – Ein Beispiel: So mancher, der Professor werden wollte, wurde zunächst Gymnasiallehrer, promovierte und habilitierte später, und wartete auf eine Chance, berufen zu werden. Das könnte für viele eine Alternative dazu sein, als Privatdozent an der Uni für einen Hungerlohn Lehrverpflichtungen zu erfüllen. Es birgt allerdings eine Gefahr: Schon mancher fand die Arbeit mit den Heranwachsenden dann so interessant, daß er gar nicht mehr an die Uni wollte…
Bei der Umformung der Frage: „Wer bin ich, wenn ich nicht das und das schaffe…“ in die Frage: „Wer sonst würde und könnte ich gerne sein?“ geht es um die Aufwertung von Werten, die im Laufe des Lebens und Strebens an Bedeutung verloren haben. Umwertungen sind am leichtesten, wenn man erlebt, wie andere Menschen den umzuwertenden Wert wertschätzen, und wenn man versteht, warum sie ihn so wertschätzen. – Irgendwann kann man über das „wilde“ Selbstbild nur noch verständnisvoll schmunzeln, wenn es mal wieder mit dem Fuß aufstampft und verlauten läßt: „das ist hier aber irgendwie nicht richtig, eigentlich müßte ich…“
Manchmal betätigt sich sogar der Teufel als Therapeut: Auf Fausts Frage: „Wer bin ich denn, wenn es nicht möglich ist der Menschheit Krone zu erringen, nach der sich alle Sinne dringen!“, antwortet Mephisto: „Du bist am Ende, was du bist. Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken, du bleibst doch immer, was du bist.“ Aber im Gegensatz zu Therapeuten, die ergebnisoffene Gespräche führen, versucht der Teufel bloß, zu Umwertungen zu überreden. Das mag kurzfristig mal erfolgreich sein, scheitert aber langfristig am Eigensinn eines jeden Menschen. Menschen sind selbstorganisierende Wesen, man kann sie nur bei der Selbstorganisation unterstützen, aber nicht fremdorganisieren. Da verliert der Teufel jede Wette…
Nachsatz
Wir müssen nicht von Termin zu Termin hetzen, um die Bedeutsamkeit unseres Lebens zu spüren. Wir könnten sie spüren in jeder menschlichen Begegnung, in jeder, sei sie noch so alltäglich. Was nach dem Tod von uns weiterwirkt, ist jedes Lächeln, jede nette Geste, sie wirkt weiter in den Menschen, denen sie galt, und in deren Wirkung auf weitere Menschen…
Eine Utopie wäre: Von Kindheit an „trainiert“ zu werden in einer Besinnung, die unser Bewußtsein dafür stark macht, daß jede noch so alltägliche menschliche Begegnung eine historische Bedeutungskomponente hat, und sei sie noch so verschwindend gering, eine Bedeutung, der man gerecht werden kann oder auch nicht, aber der gerecht zu werden eine Relevanz hat, wie jeder mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zurückgelegte Kilometer für den globalen Klimaschutz.
Weil wir nicht dabei ertappt werden wollen, unsere mikroskopisch kleine Bedeutung fürs Ganze überzubewerten, neigen wir dazu, sie unterzubewerten… – Wie stellt Goethe sich am Ende seines Lebens die Läuterung des „High-Potentials“ Faust vor – Läuterung verstanden als Desillusionierung, persönliche Reifung und Sinngebung des eigenen Lebens mit all seinen Fehlern? – Faust soll fortan seine Zeit den Kindern widmen!
(2) Burn-Out bei Selbstlosigkeit
Manche Menschen sind mehr für andere da als für sich selbst. In der Regel ist die Voraussetzung dafür eine besondere Reife, die nicht viele Menschen haben, die aber noch nicht ausgereift ist. Denn zu jeder Pflicht an unseren Nächsten gehört auch eine Pflicht zur Ökonomie der Pflichterfüllung. Was nützt es, sich bis zur Erschöpfung dafür zu verausgaben, die Warteliste für Kindertherapien kurz zu halten, aber dann so krank zu werden, daß man 10 Jahre früher in Rente gehen muß; oder daß einem die Arbeit nach einigen Jahren so verleidet ist, daß man den Rest seines Arbeitslebens nur noch mit alten Leuten im Altenheim bastelt, obwohl man eigentlich für die Arbeit mit Kindern besonders geeignet wäre?
Was fällt manchen Menschen so schwer daran, ihrer Pflicht zur Ökonomie der Pflichterfüllung genug zu tun? – Die zugrundeliegenden Motivationen können völlig verschieden sein auf völlig verschiedenen Niveaus persönlicher Reife:
„Was für eine Bedeutung werde ich für andere haben, wenn ich nicht der Gebende bin?“ – „In welche Abhängigkeit gerate ich, wenn ich von anderen etwas annehme?“ – „Andere werden mich nur mögen und tolerieren, solange sie etwas von mir bekommen!“ – „Solange ich hier alle versorge, haben alle die Schnauze zu halten!“ – „Eigentlich stehen hier alle in meiner Schuld, und wenn die mir blöd kommen, dann könnte ich jederzeit streiken und dann würden die schon sehen, was sie davon haben!“ – „Niemand soll so leiden, wie ich gelitten habe!“ – „Ich bin hier doch derjenige, der am fähigsten zur Verantwortung ist. Man kann sich doch auf keinen verlassen!“ – „Die andern können es nicht so gut wie ich!“ – „Es macht mir doch solche Freude, andern eine Freude zu bereiten!“ – „Nicht für andere da zu sein paßt einfach nicht zu mir und fühlt sich irgendwie unstimmig an!“
Es gilt in jedem einzelnen Fall, die den Motivationen zugrundeliegenden unzutreffenden Erwartungen, einseitigen Ziele, unbewältigten Schmerzen und unangepaßten Selbstbilder bewußt zu machen. – Auch hier werden sich die seit früher Kindheit gewachsenen Verhaltenstendenzen nicht verändern, ja vielleicht nicht einmal abschwächen. Doch kann die Einsicht in ihre Entstehungsbedingungen zu immer größeren Freiheiten gegenüber diesen Tendenzen führen. Das gelingt allerdings nur, wenn das Einsehen oft genug „trainiert“ wird. Denn die beste Einsicht nützt nichts, wenn man zum richtigen Zeitpunkt nicht dran denkt.
(3) Ausgeglichenheitsbilanz
Der Leistungs-Erholungs-Kreislauf hat drei Dimensionen: Gratifikation (3.1), Rhythmus (3.2), Synergie (3.3):
(3.1) Gratifikation
Ich unterscheide mehrere Parameter, die in der ein oder anderen Ausprägung jede Leistung hinsichtlich ihres Gratifikationspotentials charakterisieren:
- Welches Notwendige wird durch eine Tätigkeit erledigt? (3.1.1)
- Welchen Status gibt sie mir? Wie verbessert sie meine Chancen auf Sex,
Macht und Geld? (3.1.2) - Was sagt es über mich aus, wenn ich damit Erfolg habe? (3.1.3)
- Wie sinnvoll ist sie? (3.1.4)
- Wie interessant oder faszinierend ist sie? (3.1.5)
(3.1.1) Die Erledigung des Notwendigen: Viele Tätigkeiten zur Erledigung des Notwendigen machen an sich keine Freude, man macht sie nur, weil es notwendig ist. Sie brauchen am meisten Überwindung (ich denke da an Bügeln und Steuererklärung). Den Lohn solcher Tätigkeiten erlebt man am wenigsten „unmittelbar“, weil er meist nur in der Abwendung zukünftiger unangenehmer Folgen besteht.
(3.1.2) Angestachelte Tätigkeit: Dazu gehören: Das Streben nach Status, Ruhm, Macht und Geld. – Solche Tätigkeiten können um so belastender sein, wenn sie mit den eigenen moralischen Richtigkeitsmaßstäben und den Lebenssinnvorstellungen in Konflikt geraten. Aber ihr Erfolg führt zu Gefühlen von Erleichterung, Zufriedenheit, Selbstliebe, Mut und Hoffnung, vielleicht sogar Grandiosität. Erfolg kann hier als „Kick“ erlebt werden und energetisieren bis zur Euphorie. Charakteristisch ist jedoch: das Lebensglück wird dadurch nicht dauerhaft erhöht. Das Erreichte wird schnell zur „Selbstverständlichkeit“. Dann muß der nächste Kick erreicht werden… – Werden zu einseitig Status-Gratifikationen erstrebt, besteht die Gefahr eines dilletantischen „Belohnungscocktails“, in dem die Aspekte Faszination, Beziehung, Lebenssinn „unterdosiert“ sind. Trotz hoher „Belohnung“ entsteht dann ein Ungleichgewicht von Verausgabung und „Vereinnahmung“.
(3.1.3) Der Wille zur Wirkung: Erfolgserlebnisse gehören mit zu den wichtigsten „Gratifikationen“: Im Wirken vergewissern wir uns uns selbst. Etwas in uns bleibt wie 2-jährige: „Alleine!“ rufen sie empört, wenn man ihnen auf dem Spielplatz helfen will. Je tollere Wirkungen man erzielt, desto toller findet man sich. Das ist der operationale Narzissmus: „durch die Adern der Natur zu fließen und schaffend Götterleben zu genießen“ (Faust).
Eine Kassiererin macht sinnvolle Arbeit, Arbeit, die sehr anstrengend ist, ohne intellektuell anstrengend zu sein und ohne viel Ausbildung zu erfordern. – Die Arbeitsbedingungen sind strapazierend: tagaus tagein, selbst an den herrlichsten Sonnentagen, in einer überfüllten, lärmigen Halle im Kunstlicht sitzen. – Viele Kassiererinnen leben buchstäblich von der netten Gestaltung der beiläufigen Kontakte mit den Kunden! Denn so sinnvoll die Tätigkeit auch ist: das Erleben dieses Sinns bleibt schwach, das Gehalt gering, die Arbeitsbedingungen entnervend, die Anerkennung spärlich. – Unterforderung ist einer der größten Stressfaktoren: Verausgabung von Lebenszeit ohne die Früchte der eigenen Potentiale ernten zu können. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Porsche und dürfen nur 30 fahren! Unterforderung ist Raub von Lebenszeit und müßte eigentlich hoch entschädigt werden.
Meine Theorie würde vorhersagen: Menschen mit überwiegend unterfordernder Arbeit sind gefährdet für Erschöpfungs- oder Suchtkrankheiten, wenn sie außerhalb der Arbeit nicht über genügend soziale Beziehungen verfügen, die einen tragfähigen Lebenssinn ermöglichen. – Jene Menschen, die überwiegend unterfordernde Tätigkeiten verrichten müssen, und sich dabei nicht erschöpfen, haben wahrscheinlich eine „gesunde“ Beziehungsfähigkeit, d.h.: sie sind nicht nur fähig, Beziehung zu wichtigen Andern aufzubauen und zu erhalten, sondern sie sind auch fähig, sie so zu erleben und zu schätzen, daß sie daraus alles an Sinn und Freude beziehen können, was sie für ein gelingendes, ein „lohnendes“ Leben brauchen.
Wie hegelte der junge Marx: „Der Arbeiter ist bei der Arbeit außer sich und außer der Arbeit bei sich.“
Durch Taten zu beweisen, daß Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht, dieses Wort Fausts, mit dem er nach seiner Frustration, daß das mit dem Götterleben nichts geworden ist, seinen Selbsttötungswillen artikuliert, dieses Wort könnte auch das Stoßgebet der Selbstmordattentäter sein: So wichtig ist das Erlebnis eigener Wirkung, daß manche jungen Männer, die an ihrem Ort in der Welt keine Chance sehen, so zu wirken, wie es sie drängt, lieber einmal so richtig etwas bewirken wollen, egal was, und dann sterben, statt ein langes, scheinbar wirkungsloses Leben zu führen.
Der Mangel an Erlebnissen von Eigenwirksamkeit durch unterfordernde Berufstätigkeiten kann genauso zur Erschöpfung führen, wie Überforderung. Menschen sind mit Unterforderung überfordert.
Jede Tätigkeit kann mit einfachen Fragen auf ihren Gehalt oder ihr Defizit an Eigenwirksamkeitserlebnissen überprüft werden: „Wieviel von meiner Persönlichkeit steckt in dem Produkt? Waren dabei meine besonderen Stärken erfordert, meine Kreativität, Intelligenz und Erfahrung, oder handelt es sich um einen monotonen Handgriff, den jeder schnell lernen kann – war ich nur Handlanger für Intentionen und Pläne anderer?“
(3.1.4) Lebenssinn: Dazu gehört alles, was wir für andere tun. Handlungen aus Liebe führen zu Gefühlen von Freude, Zufriedenheit, Selbstwerterhöhung und dem Gefühl, mit der Handlung zum Gelingen des eigenen Lebens beigetragen zu haben. – Dieses Gefühl erleben wir selten „in Reinkultur“, doch vermutlich begleitet und mitmotiviert es viele unserer alltäglichen und beruflichen Aktivitäten.
Charakteristisch für die „Belohnung“ durch „reine“ Lebenssinntätigkeiten ist: Sie macht unabhängig von tollem Erfolg und tollen Erlebnissen. Böse Zungen könnten spotten, sie sei das „Nonnenglück“ – aber genau darin liegt ihre Stärke: Jemand, der (aus welchen Gründen auch immer) keine „tollen“ Erlebnisse in der Liebe, in der Kunst oder durch Erfolg, Macht und Reichtum erlebt, kann dadurch, daß er seine Potentiale sinnvoll einbringt und nützlich macht, dennoch ein Gefühl des Lebensgelingens bekommen. – Emanzipation von selbstbezogenen Glückserlebnissen trainiert den Charakter.
Was wir für uns selber tun,
Wird mit uns im Grabe ruhen.
Doch was wir den Andern geben,
Wird uns einmal überleben. D. Seefeld
(3.1.5) Faszination („Flow“): Bei faszinierenden Tätigkeiten – vom Spiel über die Kunst bis zur Forschung – besteht ein großer Teil der Gratifikation schon in der Tätigkeit selbst. Die Tätigkeit ist selbstgenügsam: man ist von ihr so absorbiert, daß man nicht mehr daran denkt, etwas damit erreichen zu wollen:
„Es ist ein Zustand der Selbstvergessenheit in einer Tätigkeit, des lustvollen Aufgehens im Augenblick, … des Untergetauchtseins im Schaffensrausch. Im Flow ist man, wenn man die unnötigen Gleise im Gehirn abschaltet und nur noch die nötigen fährt. Flow wird subjektiv als ein Zustand zwischen Anspannung und Glück … erlebt. … Herzrate, Atmung und Blutdruck werden synchronisiert, das limbische System und der Neokortex versetzen uns in einen angstfreien, intrinsich motivierten, aufmerksam-fokussierten Zustand produktiver Harmonie, vergleichbar dem Zustand, den Kinder beim Spiel erreichen. Es ist ein autotelischer Zustand (das Ziel der Tätigkeit ist die Tätigkeit selbst), der unseren Fähigkeiten insofern entspricht, als dass wir nicht unter-, aber auch nicht überfordert sind; die innere und äußere Welt sowie die Zeit werden ausgeblendet.“ (H. Menning 2011).
Je weniger eine Tätigkeit über „Flow-Effekte“ verfügt, je weniger treibt sie sich selbst an, je mehr bedarf sie stetiger Zufuhr von Antrieb und begünstigt Erschöpfung.
Jede Tätigkeit kann auf ihren „Flow-Gehalt“ getestet werden mit den folgenden Fragen: „Wieviel Inspiration und Motivation entspringt der Tätigkeit selbst, mit wieviel Interesse und Faszination ist sie verbunden, wie stark erlebe ich sie so, als erledige sie sich von alleine – und wieviel freudlose, mühsame Notwendigkeit liegt in ihr.“
Doch „Flow“ in reiner Form kann auch zur Erschöpfung beitragen, weil man davon nicht genug kriegen kann und eine andere Dimension menschlicher Tätigkeit zu vernachlässigen droht: den Lebensrhythmus (s.u.). Goethe scheint diese Gefahr gekannt zu haben: „Unbedingte Tätigkeit macht zuletzt Bankrott“.
(3.2) Synergie
Unser Gehirn braucht Anregung: Inspiration und Motivation. – Wir brauchen einander, um unsere Ideen und unser Wissen gemeinsam zu nutzen, um uns Rückmeldungen über unsere Leistungen zu geben, um uns zu motivieren durch Wertschätzung.
Je weniger Ideen und Wissen verfügbar sind, je belastender ist die Arbeit. Im Team kann man schnell mal fragen: „Sag mal, wie macht man das am Besten, du hast das doch schon mal gemacht!“ Im Team herrscht die Zuversicht, daß die andern weiter wissen und weiter können, wo das eigene Wissen und Können seine Grenze findet. – Und es ist ein Unterschied, ob mein Arbeitsergebnis morgen erwartet oder von niemandem angefordert wird und ob ich unsicher bleibe bezüglich des Wertes meiner Arbeit, oder ob andere sie brauchbar finden. Wertschätzung, Kooperationsbereitschaft und Zuversicht mobilisieren Energie. Alleinarbeitende müssen alles aus sich selbst beziehen: Inspiration, Motivation, Problemlösung und Einschätzung des eigenen Werkes.
Führungskräfte sind mit einigen Aspekten ihrer Verantwortung oft „allein“. Sie brauchen eine gewisse Synergiemangel-Resistenz. Sonst droht Erschöpfung. Die Kunst des Führens besteht darin, diese Einsamkeit auf das unbedingt Nötige zu minimieren – d.h. soviel wie möglich kooperativ zu lösen.
Je besser die soziale Unterstützung, je besser ist die Verteilung der Motivations-, Verantwortungs-, Inspirations- und Kreativitätslast.
Goethe faßt mit subtiler Ironie den Mythos vom Urteam in ein paar Versen zusammen, die er dem weisen Arzt Chiron in den Mund legt, um Fausts Heldenkult zu therapieren:
Im hehren Argonautenkreise
war jeder brav, nach seiner eigenen Weise.
Und nach der Kraft, die ihn beseelte,
konnt er genügen, wo es den andern fehlte.
Die Dioskuren haben stets gesiegt,
wo Jugendfüll und Schönheit überwiegt.
Entschluß und schnelle Tat zu andrer Heil,
den Boreaden wards zum schönsten Teil.
Nachsinnend, kräftig, klug, im Rat bequem,
so herrschte Jason, Frauen angenehm.
Dann Orpheus: zart und immer still bedächtig
schlug er die Leier, allen übermächtig.
Scharfsichtig Lykeus, der bei Tag und Nacht
das heilige Schiff durch Klipp und Strand gebracht.
Gesellig nur läßt sich Gefahr erproben,
wenn einer wirkt, die andern alle loben.
(3.3) Rhythmus
Ohne rechtes Verhältnis von Tat und Genuß entsteht Erschöpfung oder Sucht.
Unser Leben ist dem Zug der Zugvögel vergleichbar, seiner Gliederung in Flugstrecken und Rastplätze. – Tun, wozu man Lust hat, ist kein Rastplatz, sondern bestenfalls „Flow“, eine Tätigkeit, die sich durch Lust und Faszination selbst motiviert, aber dennoch verausgabend ist und initial einen Antrieb erfordert, für den man manchmal einfach zu erschöpft ist. – Ein Rastplatz zeichnet sich aus durch Genuß ohne Tat: man erlebt lustvolle Gefühle, ohne sich dafür in irgendeiner Form verausgaben zu müssen, z.B.: Essen; Baden, Schmusen, Tagträumen, sich im Lieblingscafe bedienen lassen und dabei den Leuten auf der Straße zusehen. – Zur Rast geeignete Zustände lassen sich erkennen an der Vorfreude: „Ah, wenn ich nach Hause komme, werde ich mir erstmal ein Bad einlassen, und dann kann die ganze Welt mich mal…“
Auch das Rasten unterliegt den Rhythmen des Lebens – „Ruhe finden“, nennt es der Volksmund: Wir können nicht auf Befehl entspannen und genießen. Auch die Erholung hat ihre Zeit. Wer zuviel arbeitet, vitalisiert sich so stark und hat ein so kleines Zeitintervall bis zum nächsten Einsatz, daß er nicht „runterkommt“. Da bietet dann der Alkohol seine Dienste an… – Drogen sind ein Schein-Rastplatz: Sie bieten, wie ein Rastplatz, Lust ohne Leistung und – besser als ein Rastplatz – „auf Knopfdruck“. – Doch egal ob Stimulantien oder Narkotika: der Einsatz von Substanzen zur Steigerung von Leistung oder Erholung ist ein Pakt mit dem Teufel. Und selbst die gewieftesten Geschäftsleute lesen dabei nicht das Kleingedruckte…
Nachweise:
Der Vergleich mit den „Flugstrecken und Rastplätze“ stammt von dem Philosophen und Pionier der Psychologie William James. Aufgegriffen durch: Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 1979, S. 83
Das Zitat über „Flow“ stammt von Hans Menning, „Positive Emotionen“, in: Günther Schiepek (Hrg.), Neurobiologie der Psychotherapie, Stuttgart 2011², S. 256.
Die Bedeutung von Eigenwirksamkeitserlebnissen und Angst für Motivation und Erschöpfung: Bernd Sprenger et al., Gesundes Führen, Stuttgart 2012
Das Marx-Zitat gehört zu den Sätzen, die nicht mehr aus dem Kopf gehen. Seinen Ort kann ich nicht mehr angeben, den Band mit den Frühschriften (ich glaube es war MEW 13) habe ich wegen Irrelevanz nach meinem Studium verschenkt.
Die Verweise auf Goethes Faust:
- Fausts existentielle Frustration: Verse 602ff
- Fausts suizidale Krise: Verse 686 ff
- Mephistopheles Therapieversuch an Faust: Verse 1776ff
- Chirons Therapieversuch an Faust: Faust II, Klassische Walpurgisnacht, 7365ff
- Fausts Sohn als „heiliger Krieger“: Faust II, 3. Abschnitt des 3.Aktes, Verse 9695 ff
- Fausts Erlösung: Faust II, Epilog (vgl. dazu mein Interpretation des Epilogs: „So modern wie verkannt?“)