Inhalt:
Offene Kontroverse mit Prof. Körkel über Kontrollieres Trinken
Sinn und Schaden von Selbstkontrolltrainings für Abhängige
Das unentdeckte Fabelwesen: der kontrolliert trinkende Abhängige
Was heißt „zieloffene Suchtarbeit“?
Offener Brief an Prof. Körkel und die Quest-Akademie zur ihrer Internetseite www.kontrolliertes-trinken.de
(Der Text ist runterladbar hier)
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung in der Suchttherapie kann ich Ihre Ausführungen nicht unkommentiert lassen. Wer das Leid kennt, das die Versuche, kontrolliert zu trinken, anrichten können, für den wirken Ihre Ausführungen leichtfertig. Ich würde selbst bei eindeutigeren Befunden skeptischer und vorsichtiger bleiben. Kontrolliertes Trinken im Internet mit wissenschaftlichem Anspruch als Alternative zur Abstinenz vorzuschlagen, halte ich nur unter strengen Maßstäben und Voraussetzungen für verantwortbar, die Ihre Ausführungen aus meiner Sicht nicht erfüllen:
(1) Empirische Befunde
Ihre Darstellung der Ergebnisse empirischer Studien ist einseitig, unzureichend und irreführend. Es geht hier nicht um die Frage, ob Spargel schlank macht. Angesichts der Gefahren, die mit entgleisendem kontrolliertem Trinken verbunden sind, halte ich es für geboten, den Aussagewert der Studienergebnisse zu diskutieren. Dafür müssten die Ergebnisse zunächst verglichen werden mit Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen 1. Aber Sie sparen Informationen darüber völlig aus. – Zur Einschätzung des Aussagewertes müssten außerdem die Designs der Studien daraufhin analysiert und diskutiert werden, wie viel Anteil Empirie und wie viel Anteil Konstruktion sie enthalten. Dafür müssten folgende Fragen gestellt werden:
(1.1) Welche Diagnosen wurden gestellt, um welche Zielgruppen geht es?Unklar bleibt an Ihren Ausführungen zu den empirischen Befunden stets, dass Sie nicht systematisch differenzieren zwischen den verschiedenen Verwendungsintentionen des KT:
- als Selbstkontrollprogramm für Menschen, die noch nicht abhängig sind, aber sichergehen wollen, eine bestimmte wöchentliche Alkoholmenge nicht zu überschreiten;
- als „harm-reduction“ Maßnahme, d.h.: Reduktion schädlichen Konsums auf ein weniger schädliches Niveau. Das kommt bei Schwerstabhängigen in Frage, Menschen, die nicht mehr daran glauben, durch einen abstinenten Lebensstil etwas von dem erreichen zu können, was ihnen die Abstinenz wert macht, die aber dennoch lieber später als früher sterben wollen und motiviert sind, ihre Trinkmenge so weit wie möglich auf „Spiegeltrinken“ zu reduzieren.
- als Alternative zur Abstinenz bei Abhängigen.
Durch diese mangelnde Differenzierung ist nie wirklich klar, von welchen Erfolgen die Rede ist. Natürlich ist es ein medizinisch messbarer Erfolg, wenn es Schwerstabhängigen gelingt, statt zwei Flaschen Wodka eine Zeit lang täglich nur eine zu trinken, und es ist selbst dann ein messbarer Erfolg, wenn sie immer wieder episodisch in ihre alten Trinkmengen zurückfallen. Aber das kann für die meisten Abhängigen keine Alternative zur Abstinenz sein.
(1.2) Welchen Vorhersagewert haben Beobachtungszeiträume? Es ist auffällig, dass nur die wenigsten Studien längere Zeiträume beobachten2. Genau das ist aber geboten, wenn postuliert wird, kontrolliertes Trinken könne eine Alternative zur Abstinenz sein. Zeiträume von ein bis zwei Jahren kontrollierten Trinkens sehen wir bei manchen unserer Patienten auch ohne Selbstkontrolltraining. Aber was heißt das schon bei einer Lebenserwartung von noch mehreren Jahrzehnten? – Die Frage ist immer: Was geschieht in den Jahren nach dem Beobachtungszeitraum? – Die Betroffenen, von denen ich weiß, haben sich entweder geschadet oder sind verstorben, oder sie sind freiwillig zur Abstinenz zurückgekehrt, weil das kontrollierte Trinken auf Dauer keinen Spaß machte und anstrengend war, und sie sich fühlten wie ein Wagenlenker mit einem ungezogenen Pferd, das nur mit großer Mühe zu zügeln ist. Irgendwann geht man dann lieber zu Fuß…
(1.3) Methodische Fragen: Wurden die Probanten angeschrieben oder mündlich befragt? Wie viele von den Angeschriebenen haben nicht zurückgeschrieben? Wie wurde das gewertet? – Wie wurden die Angaben der Probanten überprüft?
(1.4) Ein weiteres Problem: Die Replizierbarkeitsforderung. Wenn einmal in Schottland oder Schweden etwas festgestellt wird, kann das nur dann als objektive Feststellung gelten, wenn es auch zu anderen Zeiten und in andern Ländern festgestellt wird. Sonst ist nicht klar, wie viele Zufälligkeiten die Ergebnisse verzerren. – So gibt es z.B. nationale Diagnosestile: Für die große Sobellstudie kann gezeigt werden, dass viele Teilnehmer in Deutschland nicht als abhängig diagnostiziert worden wären3.
(1.5) Schließlich muss die Möglichkeit von untersuchungsinduzierten Artefakten berücksichtigt werden: Selbst 10 Jahre nach Abschluss einer Studie könnte die Tatsache, ein Probant gewesen zu sein und an Langzeitkatamnesen teilzunehmen, verhaltensmodulierende Effekte haben. –
Publikationen, die wissenschaftlichen Anspruch erheben, sollten bei der Argumentation mit Studienergebnissen prinzipiell nicht bloß abschreiben, was herausgekommen ist, sondern diskutieren, was gemacht wurde. – Ihre Darstellung der empirischen Befunde ist tendenziös und genügt wissenschaftlichen Objektivitätsforderungen nicht.
(2) Suchtgedächtnis
Zunächst fällt auf, dass Sie in Ihrem Beitrag komplett auf Rückfallphänomenologie verzichten 4. Ohne Anschauung ist es natürlich viel leichter, ein Konzept wie das „Suchtgedächtnis“ in Frage zu stellen, denn es stellen sich keine Gegenfragen. – Doch schwerwiegender ist, dass Sie den neuropsychologischen Wissensstand zum prozeduralen Gedächtnis nicht berücksichtigen. Dadurch bleiben Sie einem naiven, vorwissenschaftlichen Gedächtnisbegriff verhaftet und geraten auf einen Holzweg.
Es handelt sich beim „Suchtgedächtnis“ um eine Art Trainingseffekt, verwandt mit antrainierten Reflexen: Das Suchtgedächtnis ist ein antrainiertes neuronales Aktivierungsmuster, das bewusstseinsunabhängig Trinkimpulse generiert und über das Prinzip der reziproken Hemmung den Kontakt zu Einsicht und Vorsatz blockiert.
Dieses Phänomen ist in der ein oder anderen Form in allen Lebensbereichen altbekannt: Klavierspieler kämpfen damit, dass sich alte Fingersätze nicht wieder durchsetzen. – Meine Eltern, die Lenkradschaltung gewöhnt waren, berichteten davon, wie sie bei ihrem ersten Automobil mit Knüppelschaltung in Stresssituationen noch Jahre lang unversehens wieder ans Lenkrad griffen.
Die Effekte des prozeduralen Gedächtnisses sind empirisch sehr gut belegt. Wer ohne diese Kenntnis Ihren Beitrag liest, erfährt davon nichts und hat keine Chance, sich ein realistisches Bild von der Macht des Gedächtnisses zu machen.
Im übrigen spielt hier keine Rolle, wie weit die Forschung fortgeschritten ist bezüglich der neurobiologischen Konstitution von Trainingseffekten, ja nicht einmal bezüglich der „Messbarkeit“ postulierter Suchtgedächtniseffekte. Klinische Erfahrung und Phänomenologie legen schlichtweg nahe, dass jemand, der als abhängig diagnostiziert wurde, ein sehr hohes und unkalkulierbares Risiko eingeht, früher oder später zu Schaden zu kommen, wenn er versucht kontrolliert zu konsumieren. – Die Frage ist doch: ob es sinnvoll ist, bloß weil wir noch nicht in der Lage sind, präzise Vorhersagen über Suchtgedächtniseffekte zu machen, unkalkulierbare Risiken einzugehen wegen so einer Sache wie Bier.
Anm.: Die Theorie vom Suchtgedächtnis ist ein „wissenschaftliches Forschungsprogramm“, das sich nicht dadurch diskreditiert, dass an den Konzeptualisierungen noch gearbeitet wird. In Ihrer Polemik lassen Sie außer acht, was die Wissenschaftstheorie über die Eigenart wissenschaftlichen Fortschritts herausgefunden hat: Kopernikus Weltbild war auch lange eine „metaphysische Spekulation“: Weil Kopernikus glaubte, die Planeten bewegten sich auf Kreisbahnen um die Sonne, war es der Erklärungskraft des ptolemäischen Weltbilds zunächst unterlegen. Hätten sich die Astronomen davon abschrecken lassen, würden wir heute noch glauben, die Sonne kreise um die Erde5.
Lerneffekte sind irreversibel. Es ist nur möglich, Alternativen dazu zu trainieren. Aber wie stabil die Alternativen sind und wie hoch der Aufwand ist, um das Risiko, dass der ursprüngliche Effekt wieder auftritt, erkennbar zu minimieren – genau das ist die Frage.
Für kontrolliertes Trinken bedeutet das: Wir bräuchten Erfahrungswerte, wie viel Aufwand mit Kontrolltraining betrieben werden muß, um das Risiko dauerhaft gering halten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das langfristig nur geht, wenn mindestens zweimal pro Woche einen Abend trainiert wird. – Aber wie blöd würde das klingen: „Kinder, Papa hat heute keine Zeit, er muß wieder zum Selbstkontrolltraining, damit er nicht wieder zu viel Bier trinkt!“ Welches Kind würde da nicht fragen: „Warum muss Papa denn dann überhaupt Bier trinken?“
(3) „Dispositionelles Krankheitsbild“
In Ihrer Kritik des „dispositionellen Krankheitsbildes“ widerlegen Sie etwas, was so längst niemand mehr behauptet, dadurch entsteht ein suggestiver Effekt.
Nach den Intuitionen der Forscher und Praktiker besteht die „Disposition“ in dem eben skizzierten Lerneffekt, den Sie unberücksichtigt lassen. Und „Kontrollverlust“ bedeutet: Das „antrainierte“ Konsummuster versucht, sich gegen jedes Zügeln durchzusetzen und schafft es früher oder später auch – d.h.: früher oder später kommt es wieder zu Problemen, die der Betroffene eigentlich nicht für den Konsum in Kauf nehmen will, er hat keine verlässliche Kontrolle mehr darüber, daß sein Konsum dauerhaft unter der Schwelle problematischen Konsums bleibt.
Genau das bedeutet Abhängigkeit: dass man sich nicht mehr auf seine Selbstbestimmung verlassen kann. Das ist ein „qualitativer Sprung“. Freilich gibt es auch quantitative Parameter: Häufigkeit und Heftigkeit der Entgleisungen. Doch jeder, bei dem Abhängigkeit diagnostiziert wurde, muss mit Folgendem rechnen: Wer die Abstinenz beendigt, kann nicht mehr kalkulieren, ob dabei früher oder später etwas zu Bruch geht, und was und wieviel davon. Abhängige, die die Abstinenz beenden, sind wie Menschen in einem ausgedörrten Sommerwald, die ein Lagerfeuer entzünden.
Dass ein qualitativer Sprung, den wir als eindeutiges diagnostisches Kriterium nützen können, nicht ersichtlich ist, zeigt nicht, dass es keinen gibt, sondern nur, dass wir keinen sehen. Die diagnostische Grauzone ist eine missliche Situation für Menschen, bei denen in Frage steht, ob sie bereits abhängig sind oder noch nicht, denn sie müssen mit einem hohen Preis für ihren Konsum rechnen, wenn sie sich nicht für die Abstinenz entscheiden. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob er Alkoholkonsum als einen so hohen Lebenswert ansehen will, dass er bereit ist, dafür unkalkulierbare Risiken einzugehen…
(4) Der Anwendungsbereich von Trinkkontrolltrainings
Ihre Darstellung des bestehenden Beratungsangebots ist unzutreffend und erzeugt suggestive Effekte. Es ist immer schon Aufgabe von Suchtberatungsstellen gewesen, die Menschen „zieloffen“ zu beraten und bei ihren Kontrollversuchen zu begleiten. Vielen Betroffenen reicht es, selber Kontrollstrategien auszudenken und auszuprobieren. Sie können sich zur Abstinenz entscheiden, wenn sie damit nicht den gewünschten Erfolg haben, ohne erst noch einmal mit einem professionellen Selbstkontrolltraining experimentieren zu müssen.
Dennoch stimme ich Ihnen zu, daß Konsumkontrolltrainings eine sinnvolle Ergänzung des Hilfeangebots sind, weil dann niemand mehr allein experimentieren muß.
Allerdings sollten Sie in Ihrem Artikel ausdrücklich darauf hinweisen, daß „zieloffen“ nicht heißen darf „zielunreflektiert“. – Nur für solche Abhängige, die nach eingehender Beratung und nach therapeutisch angeleiteter Erforschung ihrer Abstinenzfurcht noch immer an der Abstinenz zweifeln, ist ein Selbstkontrolltraining indiziert. Das Risiko ist jedoch: dass sie gute Erfahrungen mit den Kontrollexperimenten machen und daraus den falschen Schluss ziehen, langfristig unproblematisch und risikoarm mit dem Konsum umgehen zu können.
Dieser Schluss ist trügerisch: Zum einen, weil aus einem professionell angeleiteten Kontrollprogramm nicht auf die Kontrollfähigkeit nach Beendigung der professionell begleiteten Experimentalphase geschlossen werden kann, zum anderen, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Kontrollregeln langfristig stabil bleiben: Es muss damit gerechnet werden, dass das „Experimentieren“ eigensinnig fortgeführt wird und früher oder später wieder in problematischem Konsum endet, der zu massiven Schäden führen kann, wie z.B. Führerscheinverlust oder Kindeswohlgefährdung.
Aus meiner Sicht ist es daher bei jeder verantwortlichen Darstellung zu Kontrolliertem Trinken unerlässlich, Warnhinweise wie die Folgenden gut sichtbar zu positionieren:
- Kontrolliertes Trinken ist nicht automatisch unschädliches Trinken. Nicht alle schaffen es, die regelmäßige Trinkmenge auf ein leidlich unschädliches Niveau zu drosseln.
- Abstinente leben länger. Selbst moderater regelmäßiger Alkoholkosum begünstigt die Entstehung vieler Krankheiten.
- Jeder Abhängige, der versucht kontrolliert zu trinken, muss früher oder später mit einem Rückfall in das alte Trinkverhalten rechnen. Bei solchen Rückfällen muss mit unkalkulierbaren sozialen, psychischen und gesundheitlichen Schäden gerechnet werden.
- Wenn Sie abhängig sind, und dennoch Kontrolliertes Trinken ausprobieren möchten, dann ist das nur empfehlenswert nach professioneller Beratung und im Rahmen eines professionell angeleiteten Kontrolltrainings, und nur unter der Bedingung, dass Sie zur Sicherheit damit rechnen, dass es nicht klappt.
- Von einem eventuellen Erfolg im Rahmen des professionell angeleiteten Trainings können Sie nicht auf die Zeit nach dem Training schließen.
- Für viele Menschen, die problematisch konsumieren, gilt: Ihre Lebensziele können sie nur mit Abstinenz erreichen.
- Falls Sie neben Symptomen einer Abhängigkeit auch unter einer Borderline-Störung, unter Ängsten oder Depression leiden, müssen Sie mit einem erhöhten Risiko eines schweren Rückfalls rechnen, wenn Sie ausprobieren, ob sie noch kontrolliert trinken können.
(5) Fazit
In Ihrem Artikel differenzieren Sie nicht, Sie betrachten keine Langzeitverläufe, Sie referieren Studienergebnisse ohne Ihren Aussagewert zu diskutieren, Sie berücksichtigen die Forschung zum prozeduralen Gedächtnis nicht und Sie widerlegen Behauptungen, die niemand mehr vertritt.
Ihr Artikel ist fachlich unzureichend, tendenziös und suggestiv, und schon allein sein Netzauftritt nährt die althergebrachten Gerüchte über Kontrolliertes Trinken, da muß man noch gar nicht viel gelesen haben. Es muss davon ausgegangen werden, dass Ihr Artikel dazu beiträgt, dass Abhängige sich zu fatalen Fehlschlüssen verleiten: „Na siehste, die Wissenschaft hat festgestellt, dass nicht alle Abhängigen abstinent leben müssen. Vielleicht gehöre ich zu denen, die kontrolliert Trinken können – und so ein Kerl wie ich braucht dafür bestimmt kein Training, das wäre doch gelacht, dafür braucht man bloß einen starken Willen!“
Craving induziert krankhafte Hoffnungen, die selbst die Betroffenen hinterher nicht mehr nachvollziehen können. Ich behandle gerade jemanden, dem nach jahrzehntelangen Kämpfen noch einmal eine mehrjährige Abstinenz gelungen war und der dennoch in einer Phase der Trauer über sein weitgehend ungelebtes Leben auf den Gedanken kam: „Es soll doch einige geben, die es schaffen, kontrolliert zu trinken. Vielleicht gehöre ich ja jetzt dazu.“ Er beendete die Abstinenz, obwohl seine Rückfälle immer schwerste Verläufe angenommen hatten und mit dem Risiko einer Korsakowerkrankung verbunden waren.
Im Rahmen einer wissenschaftlichen Diskussion in Fachzeitschriften kann Ihr Artikel keinen Schaden anrichten. Aber Ihr Beitrag genügt aus meiner Sicht nicht den Anforderungen der Verantwortlichkeit, die im Netz an wissenschaftlich auftretende Beiträge zum Thema Kontrolliertes Trinken zu stellen sind. Wissenschaftlich und publizistisch müssen da strengere Maßstäbe gelten.
Über eine Stellungnahme zu meinen Kritikpunkten würde ich mich freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Winfried Lintzen
Anmerkungen
(1) Soyka M., Spanagel R., Pro und Kontra Kontrolliertes Trinken.
Psychiat. Prax. 2005; 32: S. 324 – 326
(2) So auch A. Batra et al. in: Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch von Alkohol, Dt. Ärzteblatt, Jg. 113, Heft 17, 2016 S. 307
(3) Petri, J., Trinkkontrolle, Ideengeschichte und aktuelle Debatte, in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 2/2002, S. 253 – 269
(4) wie z.B. in meinen Text „Die Tücken der Sucht“. Er ist unakademisch, weil für Patientenschulungszwecke geschrieben, hat aber eine wissenschaftliche
Berechtigung als Beitrag zum „context of discovery“ (vor allem meine Beschreibung der Erlaubnisse 2.Ordnung).
(5) Kuhn, Th., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962),
Frankfurt a.M. 1973
Prof. Körkel bedankte sich für meine „engagierte Auseinandersetzung“ mit dem Thema, schickte mir aktuellere Studienergebnisse, in denen er seine Sichtweise bestätigt sah, stellte dabei aber noch einmal klar, daß Konsumreduktionsmaßnahmen Abstinenz als Ziel der Suchthilfe nicht disqualifizieren sondern ergänzen sollen. Hier meine Erwiderung:
Sehr geehrter Herr Prof. Körkel,
herzlichen Dank für Ihre schnelle Antwort und die Übersendung aktuellerer Studienergebnisse! Ich kann jedoch keine Relativierung meiner im „Offenen Brief“ erhobenen Einwände erkennen, im Gegenteil: Sie geben selber zu, daß es kaum Langzeituntersuchungen zum „kontrollierten Trinken“ gibt. Wir wissen also nicht, wie es bei kontrolliert Trinkenden in der Zukunft weitergeht.
Ihr Engagement für Kontroll- und Reduktionstrainings bei schädlichem Suchtmittelkonsum ist zweifellos sinnvoll und notwendig. Es entstehen darüber leicht Mißverständnisse, denen abzuhelfen wäre, wenn immer genau indiziert würde, von welchen Betroffenengruppen gerade die Rede ist. Für sozial desintegrierte Schwerstbetroffene können Reduktionsmaßnahmen lebensrettend sein, und riskant Konsumierende, die noch nicht abhängig sind, haben dadurch die Chance, einen langfristig risikoarmen Konsum zu erlernen. – Mir geht es jedoch um die Gruppe jener Abhängigen, für die Abstinenz eine realistische, sinnvolle und lohnende Alternative zu reduziertem Konsum wäre. (Lassen Sie mich diese Gruppe zur Kennzeichnung in unserer Kontroverse ad hoc und provisorisch „Typ 3-Konsumenten“ nennen (Typ-1 wären die unproblematisch Konsumierenden).
Ich fürchte, daß bei Typ-3 Konsumenten, die ihren Konsum reduzieren wollen, selbst wenn sie ein professionelles Konsumkontrolltraining absolvieren, langfristig mit Folgendem gerechnet werden muß: Es wird allmählich öfter und mehr getrunken, es kommen Phasen mehr oder weniger gelingenden kontrollierten Trinkens, oder es entwickelt sich ein „Spiegeltrinken“. Und sowohl Dauer als auch Folgen von Entgleisungen und Fehlentwicklungen sind nicht kalkulierbar. Kein Abhängiger weiß, was für einen Preis er für seine Versuche, kontrolliert zu trinken, langfristig bezahlen wird. – Die neuropsychologischen Lernmodelle bekräftigen diese Befürchtung. – Selbst wenn ein moderates Trinken über Jahrzehnte gelingen sollte, bleibt ein erhöhtes Risiko, an Diabethes, an Infarkten, an Krebs oder verfrühter Demenz zu erkranken und Lebensjahre einzubüßen.
An Ihrer Übersichtsarbeit von 2015 fällt auf, daß dieser Zeitfaktor in den Untersuchungen unzureichend reflektiert wurde. Das Gleiche gilt für die Studie von 2017, die Sie mir genannt haben.
Ich kann nur noch einmal betonen: Solange wir nicht 10-Jahres Katamnesen haben und zwar bezüglich der Typ-3 Konsumenten, wissen wir nicht, was Abhängigen, die sich nicht für die Abstinenz entscheiden, langfristig blüht! –
Ich stimme Ihnen allerdings auch darin zu, daß Selbstkontrolltraining auch für Typ-3 Konsumenten ein sinnvolles Angebot ist, ein Angebot, das in der Suchthilfe implementiert werden, d.h. den Betroffenen ohne Zusatzkosten zur Verfügung stehen sollte. Es werden dadurch zweifellos mehr Betroffene erreicht und diejenigen Abhängigen, die nicht vom Sinn der Abstinenz überzeugt sind, sind mit ihren Kontrollversuchen nicht länger auf sich selbst gestellt.
Was ich anmahne ist Folgendes:
- Aus meiner Sicht gehören Konsumreduktions- und Kontrolltrainings für Problemkonsumenten in die Hand erfahrener Suchttherapeuten. Ich vermisse in Ihren Ausführungen Negativszenarien, die vorstellbar machen, wie Kontrollierter Konsum gegenüber dem Abstinenzziel zu Schaden führen kann (wie in meinem Artikel „Sinn und Schaden von Selbstkontrolltrainings für Abhängige“ dargestellt.) Solcher Schaden ist nur vermeidbar, wenn die Trainings von erfahrenen Kollegen durchgeführt werden, die den Betroffenen nach dem Training weiterhin für kompetente zieloffene Beratung zur Verfügung stehen können. – Wie bei jedem „Beipackzettel“ sollten auch Ausführungen zu Kontrolliertem Konsum eine Liste von Risiken und Nebenwirkungen enthalten.
- Aus meiner Sicht gibt es in Ihren Ausführungen auf www.kontrolliertestrinken.de ein gravierendes prinzipielles Darstellungsproblem: Ohne klarstellende und warnende Hinweise vermittelt ein Klick auf Ihre Seite den Betroffenen: „Und es geht doch!“ – Eine solche Internetseite müßte aus meiner Sicht auf den ersten Blick darüber informieren, daß auch kontrollierter Konsum riskant sein kann, daß es keine Langzeitstudien zum Erfolg von Kontrolltrainings für Abhängige gibt, und daß Abstinenz nicht so schwer ist, wie es anfangs scheint. – Außerdem zeichnen Sie ein Zerrbild von der herkömmlichen, abstinenzorientierten Suchtberatung. Ich sehe hier die Gefahr von suggestiven Effekten, die nicht in Ihrem Sinne sind: Effekten, die nahelegen, daß es sich bei der Empfehlung von Abstinenz um ein Produkt von Ideologie und Beschränktheit handelt. Damit können Abstinenzentscheidungen relativiert werden, so daß manche Betroffene begeistert noch mal zurück aufs Glatteis laufen – und einige davon werden sich den Hals brechen…
Ich fürchte generell, daß jede unvorsichtige Darstellung von Kontrolliertem Konsum zu suggestiven Effekten führen kann, die Ihren Intentionen zuwiderlaufen: zu der Bekräftigung, daß Alkoholkonsum ein großer Lebenswert sei, den man sich nicht so leicht nehmen lassen sollte, und daß Abstinenz schwer und entsagungsreich sei bis zur Unzumutbarkeit. – Diese Suggestionen wären doppelt irreführend! – Sie werden mir möglicherweise zustimmen: Trainingsprogramme für Kontrolliertes Trinken bewegen sich in einem Land wie Deutschland, das zu den „gestörten Trink-Kulturen“ gehört, auf einem schmalen Grad zwischen sinnvoller Hilfestellung und Mitagieren mit traditionellen alkoholbezogenen Illusionen und Widerständen. Aus meiner Sicht, der Sicht eines langjährig erfahrenen Praktikers, wäre es sinnvoll, wenn Ihre Darstellungen diesem Umstand besser Rechnung trügen.
Über eine Stellungnahme zu meinen Bedenken würde ich mich freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Winfried Lintzen
Nachtrag:
Sie machten mich darauf aufmerksam, daß 70 % der Teilnehmer einer stationären Therapie ein Jahr nach Therapieende rückfällig sind. – Zunächst möchte ich dem die Ergebnisse von Studien aus den 90ziger Jahren entgegenhalten, die die Fragestellung umdrehten, indem sie erhoben, wieviele in einem 3-5 Jahreszeitraum abstinent werden, das waren mehr als 70 Prozent! (Beleg folgt.) – Stationäre Therapien dauern 3-4 Monate. Ich frage mich, wer je ernsthaft glaubte, daß 3-4 Monate alltagsenthobener Therapie ausreichen können, ein langjährig fehlentwickeltes Verhalten zu korrigieren. Ich glaube, hier waren die Erwartungen immer schon unrealistisch. – Solche Zahlen sind Artefakte aufgrund unzureichender Störungs- und Heilungskonzepte. Wir betreten hier ein weites Feld, auf dem ich so manche Lanze zu brechen bereit wäre. Ich halte den deutschen Ansatz, die Suchttherapie aus der Zuständigkeit der Krankenkassen auszugliedern und in die Hand der Rententräger zu geben, für verfehlt. Bei den Rententrägern gibt es nur die schwerfälligen und formal überfrachteten Maßnahmen der „medizinischen Rehabilitation“. – Glücklicherweise sind aber die Rententräger nicht dumm und haben in den letzten Jahren eine immer größere Flexibilität geschaffen. So kann jetzt in Ausnahmefällen nach einer stationären Therapie eine ambulante Rehabilitation statt der deutlich abgespeckten Nachsorge beantragt werden. – Außerdem schätze ich, daß sowieso viel zu oft und zu schnell stationär behandelt wird. Viele Ärzte kennen die Möglichkeit einer ambulanten Reha Sucht überhaupt nicht! Da ist es dann auch kein Wunder, daß viele Betroffene gar keine Therapie in Anspruch nehmen, weil sie intuitiv mit ihrer Einschätzung richtig liegen, daß stationär für sie nicht paßt. – Soviel ad hoc zu Ihrem Einwand. Dazu wäre sicher noch viel zu sagen, bei Bedarf stehe ich dafür gerne zur Verfügung…